Kramp, Ralf (Hrsg)
gerade die frohe Botschaft verkünden, als ich höre, was Kommissar Becker zu Dr. Weber sagt: »Herr Doktor, bei allem nötigen Respekt vor dem Wohl ihres Patienten, aber es hat bisher kein Mensch eine Begegnung mit dem Eifelmörder überlebt, er tötet sogar die Zeugen, die ihn bei seinen Taten überraschen, warum sollte er also Kaminsky verschonen? Vielleicht ist Kaminsky ja der Eifelmörder. Seine Frau fand heraus, dass ihr Mann ein Mörder ist, und er hat sie deswegen umgebracht. Denn die Tatsache, dass er als einziger überlebt haben soll, macht ihn durchaus verdächtig, außerdem ist er die einzige Spur, die ich habe.«
Ich der Eifelmörder?
, rumort es in meinem Kopf.
Er verdächtigt mich, neun Menschen und meine eigene Frau umgebracht zu haben! Mir ist schwindelig, mein Kopf dröhnt und ich trete einen Schritt zurück, versuche mich auf meinen wackeligen Beinen zu halten und diese Vorwürfe als den Blödsinn abzutun, der sie ganz offensichtlich sind. Aber mein Kopf ist dabei keine Hilfe. Ich weiß weder wer ich bin, noch was vor dem heutigen Tag in meinem Leben passiert ist.
Ich könnte alles und jeder sein
.
Ich versuche mich wieder zu beruhigen. Spähe mit einem Auge durch den Spalt in den Flur und sehe, wie die beiden zurück zum Zimmer kommen.
Die Freude über eine wiederkehrende Erinnerung ist dahin, und als die beiden reinkommen, liege ich wieder in meinem Bett, als wäre nichts gewesen.
»Herr Kaminsky, Sie brauchen jetzt Ruhe, und für heute wird Sie Kommissar Becker nicht mehr belästigen, das verspreche ich Ihnen.«
»Ich erinnere mich an etwas«, entgegne ich, »und Kommissar Becker belästigt mich nicht. Ich glaube, wir verfolgen sogar beide dasselbe Ziel: Ich möchte wissen, wer ich bin, und er will wissen, wer der Eifelmörder ist. Wir sind also beide darauf angewiesen, dass ich mich erinnere, und ich will ihm bei der Suche helfen, indem ich nach mir selbst und meinem Leben suche.«
»An was erinnern Sie sich?«, prescht Kommissar Becker vor, bevor Dr. Weber etwas einwenden kann oder wieder mit seinem Patientenwohl kommt.
»Dieser Turm dort in der Zeitung, ich habe ihn schon einmal gesehen, und ich erinnere mich, dass ich dort gewesen bin.«
»Das ist der Kaiser-Wilhelm-Turm auf der Hohen Acht. Er liegt auf Ihrer Wanderroute, die Sie vor zwei Tagen mit Ihrer Frau genommen haben. Man hat Sie in der Nähe des Turmes gefunden, nachdem Sie vermutlich eine Böschung hinabgestürzt sind und sich ihren Kopf angeschlagen haben. Ihre Frau wird immer noch vermisst. Wir suchen bereits nach ihr in diesem Gebiet.«
»Bringen Sie mich dort hin, sofort!«
»Herr Kaminsky in Ihrem Zustand ...«, holt Dr. Weber aus, aber ich bin fest entschlossen, und nach einer kurzen Diskussion gesteht er ein, dass es mir tatsächlich helfen könnte, mich zu erinnern.
»Erinnern Sie sich wieder?«, fragt mich Kommissar Becker.
Der Turm sieht aus wie auf dem Foto in der Zeitung, auch das Warnschild, das Absperrband und der provisorische Zaun sind noch da.
»Ich erinnere mich an das leblose Gesicht meiner Frau.« Aber dass ich mich an eine dunkle verschwommene Gestalt erinnere, die über ihr kniet und ihr den Bauch mit einem Messer aufschlitzt, verschweige ich.
»Schließen Sie die Augen, und versuchen Sie sich dann zu erinnern«, gibt mir Kommissar Becker einen Tipp. »Was sehen Sie?«
»Ich sehe mich als kleinen Jungen, mein Vater schenkt mir mein erstes Taschenmesser, es ist mein zehnter Geburtstag. Das Taschenmesser hat einen braunen Elefanten am Griff, und der Griff selbst ist weiß, aus echtem Elfenbein.«
Das enttäuschte Gesicht des Kommissars spricht Bände: Wie kann er das leblose Gesicht seiner Frau mit seinem zehnten Geburtstag assoziieren, lese ich in seinen Augen.
Und dann macht es plötzlich
Klick
.
Ich laufe, wie von der Tarantel gestochen, auf den Turm zu, reiße das Absperrband weg, trete den provisorischen Zaun ein, danach die Spanplatte, die den Aufgang der Treppe versperrt, damit niemand in den Turm geht, und auch die Rufe des Kommissars hinter mir, dass der Turm saniert wird, weil er einsturzgefährdet ist, ignoriere ich.
Ich laufe die Treppen hinauf, und auf einem Treppenabsatz halte ich kurz inne. Ich stehe vor einer weiteren Spanplatte, die hier ebenso wenig hingehört wie die Platte am Eingang. Ich reiße sie weg, sie poltert die Treppe hinab, trifft beinahe den herannahenden Kommissar, und bevor ich mich versehe, stürzt mir ein lebloser Körper entgegen, den ich nicht halten kann.
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