Kramp, Ralf (Hrsg)
Gras
jetzt unangenehm krächzend. Das neue Hemd war bereits nach den ersten zehn Minuten durchgeschwitzt, obwohl er mit den Bewegungen immer sparsamer wurde. Seine Hüftschwünge waren ungelenk, seine Armbewegungen fahrig. Irgendwann begann er, sich an den Nikotinpflastern zu kratzen. Das Publikum reagierte verunsichert. War das noch derselbe Mann, der ihnen vorhin so eingeheizt hatte?
Walburga Mießeler kaute auf den Nägeln. Ruhig, mein Schatz, ruhig. Sie tun dir nichts, sie hören deine Musik gerne. Sei nicht nervös, ich bin doch bei dir.
Und unwillkürlich reckte sie den Kopf ein bisschen höher als vorhin, beugte sich ein wenig aus der letzten Reihe nach vorne, öffnete den Mund, um ihn anzufeuern, schwieg aber …
… als er sie entdeckte.
Aus.
Vorbei.
Sein Gesang brach ab. Aber nicht abrupt von einem Ton auf den nächsten, sondern regelrecht in Zeitlupe. Die Zeile »… und hast mir mit Deinen Lippen das Leben neu eingehauhauhuuuucht …« bröckelte mit einem gurgelnden Kiekser weg, zerfiel in nuschelnde Laute. Rico Diamond taumelte nach hinten, fing sich, konnte ihren Blick nicht loslassen, und mit einem schrillen Aufschrei sprang er schließlich seitlich von der Bühne, stieß seinen Manager grob zur Seite, stieß jeden weg, der sich ihm in den Weg stellen wollte.
Walburga Mießeler setzte ihm ohne zu zögern nach. »Warte doch!«, schrie sie. »Komm zurück zu mir!«
Aber Rico stolperte vorwärts, taumelte mit ungelenken Schritten aus dem Gebäude heraus, am
Lokschuppen
vorbei auf das Gleisbett zu und sprang hinunter. Der Schotter knirschte unter seinen Füßen, er verlor immer wieder das Gleichgewicht, als er über die Gleise strauchelte.
»Geh weg!«, schrie er. »Lass mich in Ruhe! Lass mich endlich in Ruhe, du verdammte, durchgeknallte Alte!«
Als Günni Kovacz wenige Augenblicke später mit zahlreichen anderen Gästen den Bahnsteig erreichte, war Walburga Mießeler bereits auf den Schotter hinuntergeklettert und lief schreiend und mit ungelenken Schritten hinter dem Objekt ihrer Begierde her. Doch sie erreichte ihn nicht mehr.
Dafür aber der Regionalexpress 22, der von Trier nach Köln brauste, und im nächsten Moment den Körper von Rico Diamond mit einem grässlichen Geräusch von den Schienen fegte.
Günni Kovacz deutete wieder ein Nicken an. So in etwa hatte er sich das vorgestellt, als er Walburga Mießeler die Freikarte geschickt hatte. Er knüllte in seiner Jacketttasche die Socke zusammen. Für ihn und Rico war dies der einzige Ausweg gewesen. Jetzt musste er sich um die Plattenverkäufe keine Sorgen mehr machen. Das würde endlich wieder ordentlich rappeln. »Für dich war der Zug abgefahren, Rico«, murmelte er. Und dann musste er heimlich über seinen eigenen Witz kichern.
Liebes Tagebuch
,
Rico ist fort. Und doch ist er ganz nah bei mir. Als niemand zusah, habe ich mir ein Ohrläppchen von ihm in die Handtasche gesteckt. Ich bin immer sehr, sehr zärtlich zu ihm
.
Dauntown Blues
VON G UIDO B REUER
Tonika
Still lag das Wasser im Grund. Eine Schüssel angelaufenen Silbers. Nebel kroch den Maarwall herauf, zwischen den Bäumen empor und suchte sich im Morgenhimmel aufzulösen.
Die beiden Männer verharrten schweigend auf dem Kraterrand. Sie lauschten dem Rauschen der Blätter im Wind, dem eine Krähe einen heiseren Ruf anvertraute.
Alois Mayer schloss seine Augen und atmete tief ein. Eine feine Spur von Ginsterduft lag in der Luft. Auch mit geschlossenen Lidern sah er jede Einzelheit des Weinfelder Maares genau vor sich. Unzählige Male hatte er hier bereits gestanden. Alleine, mit einer Wandergruppe des Eifelvereins oder, wie an diesem Morgen, mit seinem Kollegen Siegfried Horn. Die beiden wechselten kein Wort. Ein Gespräch war nicht nötig. Sie überließen sich der Stimmung des Augenblickes, waren eins mit ihrer Umgebung.
Wieder zitterte der Schrei der Krähe über den vulkanischen Kessel. Leiser, entfernter. Alois Mayer öffnete die Augen und suchte den Himmel ab. Er konnte den Vogel nicht sehen. Der Ruf schien von links zu kommen, vielleicht saß das Tier nun auf dem Hungerkreuz oben auf der Kuppe.
Alois verließ diesen Platz nie, ohne der alten Kapelle einen Besuch abzustatten. Er schritt das weiß getünchte Gemäuer entlang und erreichte die Stirnseite des Gotteshauses.
Dort sah er die Leiche.
Noch bevor er Einzelheiten erkannte, spürte er das Grauenvolle, das den geweihten Ort heimgesucht hatte. Sein Herz, das vor einem Augenblick noch leicht und weit
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