Krampus: Roman (German Edition)
brandete auf. Mit zunehmender Begeisterung stimmte die Band den »Muleskinner Blues« an. Immer mehr Gäste schlossen sich den Tanzenden an, bis die ganze Tanzfläche voller Männer und Frauen war, die wie verrückt schrien, jauchzten und die Hüften schwangen.
Getränke wurden verschüttet, Tische und Stühle umgestoßen, aber Krampus’ fröhliches Gelächter war in all dem Durcheinander immer noch zu hören, ein tiefes, kraftvolles Dröhnen, bei dem es einem warm ums Herz wurde.
Diese Seite am Herrn der Julzeit hatte Jesse bisher nicht kennengelernt, und mit einem Mal wurde ihm klar, dass er gerade den wahren Krampus vor sich hatte, jenen aus längst vergangenen Tagen, den großen und wilden Julgeist, der die Menschheit dazu angespornt hatte, den dunkelsten Nächten zu trotzen, der ihren Überlebenswillen angefacht hatte, damit sie die Widrigkeiten der härtesten Winter überlebten. Er konnte beinahe vor sich sehen, wie das gehörnte Ungeheuer ebendiesen Tanz in den Gemeinschaftshäusern primitiver Menschen tanzte. Jesse sah, wie die Menschen sich am Geist des Alten labten, der sich seinerseits an dem ihren ergötzte. Auf einmal begriff er auch, warum Krampus die Schuhe mit den kleinen Tributzahlungen in Form von Süßigkeiten so viel bedeuteten. Mehr als alles andere brauchte er nämlich Schäfchen, über die er wachen, die er beschützen und deren Feuer er entfachen konnte. Jesse stellte fest, dass er mit den Füßen den Takt klopfte, und lächelte, weil er einfach nicht anders konnte, als sich von der Feierlaune anstecken zu lassen.
»Die haben ja mal alle verdammt gute Laune«, brummte Chet. »Ich dachte, wir dürften mit ansehen, wie der alte Bock ein paar in die Magengrube kriegt und nicht wie ein Bergkobold herumspringt.«
»Du hast meine volle Anteilnahme, Kumpel«, sagte Vernon. »Wer hätte gedacht, dass es nichts weiter als ein paar Süßigkeiten braucht, um den hässlichen Alten umzukrempeln.«
»Für Krampus war das eine ganze Menge mehr«, sagte Isabel. »Ich glaube, es war eine Bestätigung für ihn, der Beweis, dass sein Geist wirklich auf diese Welt zurückgekehrt ist.«
»He, schaut mal.« Lachend zeigte Vernon auf Wipi und Nipi, die auf der Tanzfläche wild mit den Füßen stampften.
»Die scheinen ja einen Heidenspaß zu haben«, bemerkte Isabel.
Vernon stand auf und streckte Isabel die Arme hin. »Wollen wir?«
Ein breites Lächeln umspielte ihre Lippen. »Na klar!« Sie hakte sich bei ihm ein, und die beiden betraten die Tanzfläche.
Jesse warf Chet einen Blick zu. »Siehst du den da drüben?«
»Wen?«
»Den Kerl da mit dem roten Stirnband.« Jesse deutete mit einem Nicken auf einen bärtigen Rocker mit beeindruckender Plauze, der ausgelassen tanzte. »Der glotzt dich an, seit du reingekommen bist.«
»Wie? Ja und?«
»Und? Und? Bist du blind? Ich glaube, er will dich auffordern.«
»Fick dich, Jesse. Was bist du bloß für ein Wichser?«
Jesse lachte, und es fühlte sich gut an. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Theke und schaute Isabel beim Tanzen zu. Sie bewegte sich wirklich schön, ähnlich wie Linda. Jesse dachte an all die Abende, die Linda und er miteinander getanzt hatten, und sein Lächeln verblasste. Er sehnte sich so sehr danach, sie wieder wie früher lachen zu hören, sie dicht an sich zu spüren, dass er sich mit einem Mal in dem Meer von fröhlichen Gesichtern, Gelächter und Jauchzen mutterseelenallein fühlte.
»Trish fehlt mir«, sagte Chet, und es klang ziemlich unglücklich. »Wenn sie doch bloß hier wäre, dann könnte ich jetzt mit ihr tanzen.«
Als er hörte, wie Chet genau das sagte, was er gerade dachte, erschrak Jesse. Doch dann fiel ihm auf, wie Chet die Paare betrachtete, und er bemerkte die Sehnsucht in seinen Augen – kein Wunder.
»Ich schwöre bei Gott«, sagte Chet, »wenn ich jemals aus der Sache hier rauskomme, dann bringe ich die Sache mit ihr wieder in Ordnung. Auf jeden Fall.«
Mit einem Nicken nahm Jesse einen großen Schluck und gab sich ganz dem Gedanken hin, was er selbst tun würde, falls er jemals freikäme.
Da tauchte Krampus mit einer Gitarre vor ihm auf. Jesse blinzelte, als wäre er gerade aufgewacht, denn Krampus streckte ihm die Gitarre entgegen. »Komm, Musikmacher. Spiel mir ein Lied.«
Jesse starrte das Instrument an wie ein bissiges Tier. »Nein, auf gar keinen Fall.«
Der Alte setzte sich neben ihn. »Ich würde dich gerne singen hören.«
»Nein, ich hab dir doch gesagt, dass ich damit fertig
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