Krampus: Roman (German Edition)
Stimme. Er war sich nicht sicher, ob es etwas mit dem Zauber zu tun hatte, mit dem Krampus die Bar belegt hatte, mit den verstärkten Sinneswahrnehmungen als Belznickel oder mit beidem, aber letztlich kam es darauf an, dass ihm gefiel, was er hörte. Er kam zu dem Schluss, dass seine Lieder gar nicht so übel waren, sondern sogar ziemlich gut.
Als Jesse die Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass die Menge derselben Meinung war. Die Gäste redeten nicht mehr, sondern schauten ihn an, sie folgten dem Takt und bewegten sich im Rhythmus. Noch nie hatte er sich derart mit einem Publikum verbunden gefühlt. Es kam ihm vor, als berührte er ihre Seelen. Krampus grinste ihm zu, und da erkannte er, dass der Herr der Julzeit recht hatte: Er konnte ebenso wenig mit dem Musikmachen aufhören wie mit dem Atmen. Die Luft brauchte er zum Überleben, und die Musik brauchte er, um wahrhaft lebendig zu sein. Im Takt stampfte er mit dem Fuß auf, fiel in das Johlen und Heulen ein, sang mit klarer, kraftvoller Stimme und ließ sich von dem Groove davontragen.
Mitten im Publikum sprang Krampus im Takt auf und ab und klatschte begeistert mit. Ein tiefes Brummen stieg von der Menge auf, ein warmer Laut, fast schon ein Schnurren. Die Musik entwickelte ein Eigenleben, und die Melodie von Jesses Lied trat in den Hintergrund, als er mit einem Mal die Saiten im Rhythmus eines entfernten, urtümlichen Takts zupfte. Als Krampus anfing zu singen, fielen die anderen ein. Überrascht stellte Jesse fest, dass auch er mitsang – seinen eigenen Text hatte er vergessen, stattdessen gab er Worte von sich, die keinen Inhalt, sondern ausschließlich Gefühle vermittelten. Irgendwann machte auch die Band mit, das Schlagzeug und der tiefe Klang eines Kontrabasses gaben der Musik einen neuen Pulsschlag. Alle stürmten die Tanzfläche, tanzten ausgelassen und stampften im Takt. Dazu wackelten sie mit den Köpfen und wiegten sich, die Augen wie in Trance halb geschlossen.
Der urtümliche Rhythmus schwoll an und erfüllte Jesse vom Kopf bis zu den Zehen, bis in sein Innerstes. Die Menge drängte sich dichter zusammen und bildete schließlich einen großen Kreis, wobei jeder die Hände an die Hüften des Vordermanns legte. Krampus führte die Parade an und wirbelte Runde um Runde durch den Saal, während sich die beiden Frauen von der Theke an seinem Schwanz festhielten und ihm lachend hinterherstolperten. Immer lauter wurde der Takt, als schlügen ihn hundert Trommeln, und Jesse fühlte sich rundherum wohl. Plötzlich wurde es dämmrig im Saal, die Lichter flackerten wie Kerzenflammen und ließen Schatten über Wände und Decke tanzen, die Umrisse von hüpfenden und springenden Männern und Frauen. Als er bei einigen von ihnen auf einmal Hörner und Schwänze erkannte, blinzelte Jesse, und dann entdeckte er immer mehr Tiere. Hirsche, Bären, Wölfe – sie alle wirbelten über die Wände wie uralte Höhlenmalereien, die zum Leben erwacht waren.
Irgendwann hatte Jesse sich offenbar unters Publikum gemischt, denn mit einem Mal stand er im Meer der sich wogenden Leiber. Er kam sich vor wie im Traum, als würde er schweben. Johlen und Jauchzen begleiteten die Trommeln, und neben menschlichen Stimmen erklangen nun auch Blöken, Muhen, Knurren und Wolfsgeheul. Jesse hörte seinen eigenen Herzschlag, ebenso wie den der Menschen um ihn herum, der sich wie von selbst dem Rhythmus anpasste. Da begriff er, dass er keine Trommel hörte, sondern das Pochen des Lebens selbst, den Puls von Mutter Erde. Ihn durchwogte ein Gefühl reinster Freude, und er erkannte, dass er ein Teil dieses Pochens war. Dass er wahrhaftig dazugehörte. Eine alles überwältigende Zuneigung zu den Umstehenden, zum Leben, zu allem Leben breitete sich in seiner Brust aus.
Der Herzschlag pochte weiter, die ersten Tänzer lösten sich aus dem Kreis, wanden und rieben sich aneinander. Immer mehr Menschen schienen sich in dem Saal aufzuhalten, viele mit Knochen geschmückt, andere hatten kaum noch etwas an oder waren ganz nackt. Manche trugen Masken und waren mit Asche und Farbe beschmiert. Wie von selbst landete Jesse in den Armen einer Frau, legte die Hände auf ihre nackten, verschwitzten Hüften und spürte ihre Zunge in seinem Mund. Sie roch nach Geißblatt, hatte spitze Ohren, und – er blinzelte verblüfft – aus der Stirn wuchsen ihr kleine Hörner. Sie wirbelte davon, und kurz darauf hielt er die Vorderhufe einer Ziege in der Hand. Das Tier drehte sich mit ihm im Kreis und
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