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Krampus: Roman (German Edition)

Krampus: Roman (German Edition)

Titel: Krampus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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schätzte, dass sie seit über einer halben Stunde den Berg hochmarschierten oder vielmehr -kletterten und -rannten. Oben wartete Isabel auf ihn. Die anderen Belznickel waren längst außer Sicht. Sie waren davongestürmt, als kümmerten sie die Kälte und der vereiste Boden nicht. Drei von ihnen trugen noch nicht einmal Schuhe.
    Als Jesse Isabel eingeholt hatte, blieb er stehen. Er lehnte sich an einen Baum und rang nach Atem.
    »Jesse«, sagte Isabel, »wir müssen in Bewegung bleiben.«
    Er schüttelte den Kopf und spuckte mehrmals hintereinander aus, in dem Versuch, das brennende Gefühl aus seiner Kehle zu verbannen. »Ich kann nicht mehr.«
    »Nur noch ein kleines Stück.«
    »Ich sag dir mal was«, ächzte er. »Lasst mich hier einfach für die Wölfe zurück. Inzwischen wäre es mir sogar lieber, wenn sie mich fressen.«
    Sie schüttelte den Kopf und lächelte gequält. »Zwing mich nicht, dich zu tragen.« Sie packte ihn am Arm und zerrte ihn mit.
    Sie mochte klein sein, aber er spürte, wie stark sie war und dass sie tatsächlich dazu in der Lage wäre, ihn zu tragen.
    Ein einsames Krächzen hallte durch den Wald. Es schien von weit her zu kommen, irgendwo bergab. Jesse blickte auf, aber durch das dichte Geäst der Nadelbäume konnte er nichts erkennen.
    »Vielleicht haben wir sie abgehängt«, sagte Isabel.
    »Du hast schon gesagt, dass du eine Optimistin bist. Ich traue Optimisten nicht.«
    Sie schlitterten einen Abhang hinab in eine Schlucht.
    Isabel deutete voraus. »Dort.«
    Mit Mühe und Not konnte er eine Felsengruppe vor einem Steilhang ausmachen. »Wohin wollt ihr eigentlich mit mir?«
    »Du dürftest nichts zu befürchten haben.«
    » Dürfte? Was soll denn das heißen?«
    »Pass bitte auf, was du sagst. Mach ihn ja nicht wütend.«
    »Du meinst diesen Grumpus?«
    »Er heißt Krampus.«
    »Wer genau ist denn nun dieser …«
    Isabel gebot ihm mit erhobenem Zeigefinger Einhalt. »Schluss jetzt.«
    Damit zog sie ihn in eine Lücke zwischen den Felsbrocken. Geduckt betraten sie eine niedrige Höhle. Sie führte ihn zu einem kleinen, flackernden Licht am hinteren Ende des Gewölbes. Vor einem steil abfallenden Gang blieben sie stehen. Jesse spähte hinab und rümpfte die Nase – es roch nach Tod, nach Verfall, nach einem eingesperrten Tier, das in seinem eigenen Unrat lebte. Ein Heulen hallte aus dem Schacht empor. Es klang weder menschlich noch tierisch.
    Er wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Isabel packte ihn am Arm. »Du hast keine Wahl.« Jede Leichtigkeit war aus ihrem Tonfall gewichen, nur kalte Strenge war geblieben. Ihre Augen glühten und verliehen ihr etwas Böses – wie einer Teufelin –, und Jesse wusste, dass sie ihn in ein Teufelsloch führte.
    Jesse riss sich von ihr los, bedachte sie mit einem vernichtenden Blick und machte sich an den Abstieg. Das flackernde Licht erleuchtete den Schacht gerade so viel, dass er sich einen Weg zwischen den Steinen suchen konnte und sich nicht den Hals brach. Kurz darauf trafen seine Füße auf den schwarzen, rußigen Erdboden. Er drehte sich um und erstarrte.
    Er stand in einem Gewölbe, das nicht viel größer war als ein gewöhnliches Wohnzimmer. Auf dem Boden verstreut lagen Schnapsflaschen, Knochen, Tierfelle und verkohltes Holz. In den hinteren Nischen lagen Haufen mit Decken und Heu. Auf jedem Vorsprung und jedem Erker standen Kerzen und Öllampen. An der Wand hing eine große, vergilbte Weltkarte. Sie war mit Symbolen übersät, die Jesse als astrologisch zu erkennen meinte, außerdem mit Tabellen und Linien, die mit Kohlestift über die Kontinente gezogen waren. Ansonsten waren die rußverschmierten Wände mit Bildern vom Weihnachtsmann bedeckt: Zeitungsausschnitte, Werbung aus Illustrierten, Seiten aus Kinderbüchern … Bei jedem Einzelnen davon waren dem Weihnachtsmann die Augen ausgestochen.
    Jesse schaute sich nach dem gewaltigen Krampus um, nach dem Ungeheuer, das die Belznickel derart in Schrecken versetzte, und übersah dabei fast das Wesen, das im Schneidersitz auf dem Boden saß. Bibbernd hockte es in Asche und Dreck, wiegte sich vor und zurück und hielt den Weihnachtssack umklammert. Die Stümpfe zweier abgebrochener Hörner wanden sich aus seiner Stirn, und verfilzte Haarsträhnen hingen ihm ins hagere, eingefallene Gesicht. Das Wesen grinste und kicherte, wobei es fleckige Zähne und spitze Fänge enthüllte. Anscheinend war das Geschöpf am Verhungern, so verschrumpelt und zerbrechlich, wie es

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