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Krampus: Roman (German Edition)

Krampus: Roman (German Edition)

Titel: Krampus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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aussah, wie eine lebende Leiche, wie der wandelnde Tod. Jesse erkannte jede Ader und jede Sehne unter der dünnen, von Leberflecken übersäten Haut. Hinter ihm zuckte etwas in der Dunkelheit. Einen Moment lang hielt er es für eine Schlange, eine haarige Schlange, doch dann begriff er, dass das Wesen einen Schwanz hatte.
    Es hielt den Weihnachtssack an die Brust gedrückt wie ein nach langer Zeit heimgekehrtes Kind, liebkoste ihn mit zitternden, gichtigen Fingern. Dabei stieß es ein Lachen aus, schluchzte dann und lachte erneut. Tränen kullerten ihm aus den schrägstehenden, trüben Augen. Als es den Kopf im Nacken wiegte und laut losgackerte, fiel Jesse der dicke Eisenkragen um den Hals auf. Eine Kette verlief von dem Kragen zur Wand. Das glatte Metall glänzte auf eine Art und Weise, wie Jesse es noch nie zuvor gesehen hatte. Er wusste nicht, ob er sich zu Tode ängstigen oder Mitleid für das jämmerliche Geschöpf empfinden sollte.
    Da sprang Isabel hinter Jesse herab und ging sofort auf das Geschöpf zu. »Krampus?«
    Es blickte nicht auf.
    Die Belznickel standen ein gutes Stück entfernt, als wollten sie sich nicht zu nahe heranwagen. Sie warfen einander nervöse Blicke zu und spähten dann und wann nach oben, als fürchteten sie, dass die Wölfe jeden Moment den Schacht hinabkommen könnten.
    »Krampus«, sagte Isabel noch einmal. »Sankt Nikolaus und seine Bestien haben uns aufgespürt. Sie … sie sind uns dicht auf den Fersen.«
    Das Geschöpf reagierte nach wie vor nicht.
    Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und schüttelte ihn behutsam. »Krampus«, sagte sie leise. »Die Monster. Sie werden bald hier sein.«
    Das Geschöpf antwortete nicht. Zitternd umklammerte es den Sack und wiegte sich vor und zurück.

    ***

    Krampus schloss die Augen, drückte das Gesicht gegen den Sack und atmete tief ein. Ja, ich kann sie noch immer riechen, die Feuer Hels, selbst nach all den Jahrhunderten. Der Geruch erinnerte ihn an seine Mutter, an die glücklichen Tage, als die Toten um ihren Thron getanzt waren und die Welt noch in Ordnung gewesen war. Lange habe ich gelitten, Mutter. Er sah ihr Gesicht vor sich, ein schimmerndes Trugbild, das in Hels züngelnden blauen Flammen schwebte. Langsam verblasste die Vision. Nein. Mutter, bitte verlass mich nicht. Nicht jetzt. Er presste die Nase tiefer in den Samt und schnüffelte. Dann zuckte er zurück, als hätte ihn etwas gebissen. Was ist das? Er starrte den Sack an, das Gesicht vor Hass und Verwirrung verzerrt. Sein fauliger Gestank. Er hielt den Sack ein Stück von sich weg. Da erst nahm er ihn wirklich wahr und begriff, dass er gar nicht schwarz war, wie es hätte sein sollen, sondern von einem tiefen Scharlachrot. Die Farbe von Blut.
    Krampus bleckte die Zähne. »Was du auch anfasst, wird pervertiert«, knurrte er mit grollender Stimme. Dann erst wurde ihm auf einen Schlag das ganze Ausmaß des Schreckens klar. Wie? Wie war es Nikolaus gelungen, die Herrschaft über Lokis Sack zu erlangen? Etwas Derartiges hätte überhaupt nicht möglich sein sollen, denn der Sack gehorchte nur denjenigen, die Lokis Geschlecht entstammten. »Solche Zauberei hat immer einen Preis.« Seine Stimme wurde lauter. »Wie viele hast du gebraucht? Wie viel Blut hast du für diese Trophäe vergossen?« Krampus schob den Sack von sich und starrte ihn an, als wäre er das dinggewordene Böse. Wie mächtig er sein muss, um das zu können. Seine Zauberkraft hat zugenommen. Zum ersten Mal zweifelte Krampus. Während ich hier unten verrotte und dahinschwinde, ist seine Macht derart gewachsen. Er zog die Beine an die Brust, schlang die Arme darum und drückte die Stirn auf die Knie. Solchen Hindernissen sehe ich mich gegenüber.
    »Krampus?« Die Stimme schien von weit her zu stammen.
    »Sie kommen. Die Monster kommen. Krampus, bitte!«
    Er spürte eine Hand auf der Schulter.
    Krampus blickte auf. Sie ist es. Meine Isabel, natürlich. Das Mädchen mit dem Herzen eines Löwen. »Die Monster?«, sagte er mehr zu sich selbst.
    Sie nickte.
    »Welche Gestalt haben sie?«
    »Wir haben mindestens zwei Geschöpfe gesehen, Wölfe, glauben wir. Riesige Wesen, so groß wie Pferde. Die Raben führen sie zu uns. Wir sollten …«
    »Also leben Odins gewaltige Bestien noch. Demnach sind noch nicht alle alten Götter verloren.« Die Erkenntnis entlockte ihm ein Lächeln. »Die Raben sind Hugin und Munin, und die Wölfe, Geri und Freki, sind lebenslange Gefährten … prachtvolle Tiere.« Er verzog das

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