Krampus: Roman (German Edition)
noch immer schützte, obwohl er in einer Hülle aus Fleisch und Blut wiedergeboren worden war. Trotzdem hörte ich nicht auf, sondern drosch auf ihn ein, bis ich den Schürhaken nicht mehr heben konnte. Schließlich nahm er ihn mir so mühelos ab, als wäre ich ein Kind, stieß mich zu Boden, trat mich und versetzte mir so lange Schläge auf den Schädel, bis die Welt um mich verblasste. Ich fiel der Dunkelheit anheim, während sein Lachen in meinen Ohren widerhallte.«
Jesse hustete, beugte sich vor und hielt dabei seinen Bauch umklammert.
»Ich weiß, es ist schlimm, all das mit anzuhören.«
»Wie?«
»Hier, nimm noch einen Schluck.« Krampus hielt ihm die Flasche hin. »Trink, so viel du willst. Man kann auf schlimmere Weise ins Leben nach dem Tode eingehen.«
Jesse trank. »Himmel, du … redest … wirklich gern.«
»Wie?«
Gequält verzog Jesse das Gesicht und schloss die Augen.
»Ich rede gern? Ja, manchmal schon.« Krampus nahm ebenfalls einen Schluck und fuhr dann fort. »Ich erwachte in meinem eigenen Keller, mit Händen und Füßen an einen großen Eichenbalken gekettet. Baldr saß auf einem Stuhl, auf meinem Stuhl, und starrte mich mit versteinerter Miene an. Lokis Sack hatte er wie eine Siegestrophäe auf dem Schoß. Er bot mir an, mich freizulassen, wenn ich ihn nur das Geheimnis des Sacks lehrte. Wie du weißt, gibt es kein Geheimnis, man muss Lokis direkter Nachkomme sein. Ich kannte keine andere Möglichkeit, sich den Sack zu Diensten zu machen, denn er entstammt nicht meiner Magie, sondern ist Lokis großes Zauberwerk. Aber das enthüllte ich dem Ungeheuer nicht, da ich fürchtete, damit mein Verderben zu besiegeln. Stattdessen tat ich, als wollte ich es ihm nicht sagen. Er bezog mein großes Haus im Wald und ließ mich im Keller fern von Sonne und Mond darben, in der Hoffnung, dass ich meine Meinung mit der Zeit ändern würde. Die Jahrzehnte vergingen quälend langsam, in denen ich als Nahrung nur Schnecken und brackiges Wasser hatte. Ich schwand dahin und wurde zu einem dürren Schatten meiner selbst, doch mein Geist blieb ungebrochen. Schon damals wusste ich, dass ich bloß durchhalten musste, bis eines Tages der Zeitpunkt meiner Rache kommen würde.«
Krampus richtete sich auf. »Baldr wartete nicht auf das Geheimnis des Sacks, um seine Bestrebungen in die Tat umzusetzen. Seine Besessenheit von dem Heiligen nahm zu, und obwohl Sankt Nikolaus vor über tausend Jahren gestorben war, machte Baldr dort weiter, wo er aufgehört hatte. Er stahl den Namen, ließ sich langes weißes Haupthaar und einen weißen Bart wachsen und kleidete sich in Gewänder und lächerlichen Putz, die denen des toten Heiligen nachempfunden waren. Sein Verrat an den Alten, an seinem eigenen Erbe, schien keine Grenzen zu kennen. Selbst nach Beginn meiner Gefangenschaft blieb das Julfest auf dem Land erhalten, aber auch das sollte sich mit dem Beginn von Baldrs Herrschaft ändern. Am Weihnachtstag besuchte er als Sankt Nikolaus verkleidet Häuser nah und fern, verteilte Geschenke und milde Gaben und predigte seine Lügen. Es genügte ihm nicht, die Wintersonnenwende an sich zu reißen – er wollte sich erst zufriedengeben, wenn alles, was mit der Julzeit zu tun hatte, begraben und verloren wäre. Er versuchte, die Menschen vergessen zu machen, sie sollten nicht nur vergessen, woher ihre Traditionen stammten, sondern auch die Julzeit und ihren Herrn. Wie leicht er sie hinters Licht geführt hat, wie bereitwillig sie das Gift aus seiner Hand gefressen haben. Wenn Baldr unter die Menschen ging, spielte er die Rolle des gütigen Heiligen, als wäre er dazu geboren. Sie strömten ihm in Scharen zu, konnten seinem Charme und seiner Freundlichkeit nicht widerstehen und machten sich seine Botschaft von Güte und Mildtätigkeit zu eigen, während er die Beliebtheit des Christengottes für sich nutzte. Bald wurde er zu einem Meister der Manipulation, der die Massen in seinen Bann schlug. Er druckte schillernde Geschichten von seinen guten Taten und verteilte sie, und schon bald verbreitete sich sein Ruf in alle Welt, wie sich auch das Christentum verbreitete.«
Wieder seufzte Krampus, ehe er fortfuhr. »Doch all das war Lüge, eine große Täuschung, denn während der vermeintliche Sankt Nikolaus christliche Werte predigte, vertiefte er sich zugleich in die Zauberei der Alten. Aus meiner Zelle sah ich zu, wie er die dunklen Künste wiederentdeckte und im Geheimen nach alldem strebte, was er nach außen hin als Ketzerei
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