Krampus: Roman (German Edition)
im Stich gelassen«, sagte er zu Jesse. »Du hast deinen Eid gebrochen. Ich bin dir nun nichts mehr schuldig.«
»Ich weiß.«
Der Riese hielt den Sack empor. »Du hast etwas an dich genommen, was dir nicht gehört.«
»Tut mir leid.«
»Ich sollte dich töten.«
»Zu … spät.« Jesse versuchte zu lachen, doch er musste an seinem eigenen Blut würgen.
»Trotzdem hege ich keinen Groll gegen dich.«
Jesse schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.
»Das ist mein Ernst. Die Ablenkung durch dich hat eine Veränderung bewirkt, vielleicht sogar eine entscheidende. Du musst wissen, dass ich im Bann eines Rätsels, gestanden habe.« Er schloss die Augen, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck tiefer Konzentration an. Dann steckte er die Hand in den Sack. »Dort … das Schiff. Alles ist verbrannt … die Knochen, die Planken, die Masten und die Schätze. Und, und … ja.« Er lächelte. »Die Antwort, so offensichtlich, dass ich sie nicht erkennen konnte.« Als er die Hand wieder hervorzog, lag ein Speer darin, der entlang des Schafts geborsten und von Alter und Feuer schwarz verfärbt war. »Die ganze Zeit habe ich nach einem Pfeil gesucht. Ich war so sehr darauf fixiert, dass ich sonst nichts wahrgenommen habe. Ich wollte den Sack dazu bringen, etwas zu finden, das gar nicht existiert. Wie du siehst … war es gar kein Pfeil.«
Er wischte Ruß und Schmutz von der Speerspitze, und das Metall darunter glänzte in demselben Goldton wie Krampus’ Ketten in der Höhle, die aus jenem seltsamen Erz geschmiedet worden waren. Krampus ging zu Jesse, damit er die kunstvollen Gravuren in Form von Mistelblättern und -beeren auf der Klinge besser sehen konnte.
»Siehst du … siehst du die Lösung? Es ist ein Speer und kein Pfeil.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die Antwort auf ein Rätsel erscheint einem immer offensichtlich, sobald man sie kennt.« Er drehte die Klinge hin und her und betrachtete sie wie hypnotisiert. »Baldr«, flüsterte er. »Ich halte den Tod in der Hand. Deinen Tod.«
Jesse wollte sich räuspern und versuchte angestrengt, zu atmen, doch er hustete bloß noch mehr Blut. Der Schmerz raubte ihm beinahe die Sinne, und er hätte sich am liebsten einfach zum Sterben zusammengekrümmt.
Krampus ließ sich neben ihm nieder, legte sich den Speer über die Beine und zog den Sack heran. Erneut griff er hinein, und kurz darauf hielt er eine seiner uralten Flaschen in der Hand. Er riss den Wachsverschluss ab.
»Ich hoffe, das ist Odins Met?« Jesse rang sich ein Lächeln ab.
»Ja, Met. Und jetzt trink.« Er hob die Flasche an Jesses Lippen. »Er wird dich nicht retten, aber er wird dir das Sterben leichter machen.«
Jesse nahm mehrere tiefe Züge. Der Met war warm und linderte seine Schmerzen sofort. Die Dinge verschwammen vor seinen Augen, fast wie in einem Traum, er atmete leichter, und der Schmerz verblasste. Die Lider wurden ihm schwer, er lehnte den Kopf gegen den Wagen und ließ den Blick über die Toten schweifen. Zu dumm, dachte er. Zu dumm, dass Dillard nicht hier war. Er zwang sich, den Kopf zu heben und packte Krampus am Arm. »Dillard … er hat sie noch immer!«
»Wer?«
»Er hat meine Frau … und meine Kleine. Der Kerl ist ein Mörder.« Jesse versuchte, den Gedanken im Kopf zu behalten. Er musste es Krampus begreiflich machen, aber alles um ihn herum verschwamm, und er fühlte sich schwummerig. »Er wird den beiden etwas antun … ich weiß es. Wir müssen ihn aufhalten. Krampus … ich flehe dich an … töte diesen Mistkerl.«
Der Herr der Julzeit bewunderte noch immer den Speer. »Eines Tages tue ich das vielleicht«, sagte er gedankenverloren. »Aber heute muss ich mich mit einem anderen Schurken befassen.«
***
Krampus strich mit den Fingern über die Klinge, sah das rote Licht der Weihnachtsbeleuchtung über das Blatt tanzen und dachte daran, welch großer Magie es bedurfte, um eine solche Waffe zu fertigen. »Noch genauso scharf wie an dem Tag, an dem er geschmiedet wurde.« Er hielt Jesse den Speer hin, damit dieser ihn betrachten konnte.
Jesse hatte die Augen geschlossen, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken. Krampus tippte ihm mit dem Speer auf die Schulter.
Jesses Lider hoben sich flatternd. »Was ist?«
»Sieh nur, die Klinge. Sie ist noch immer scharf.«
Der Verletzte betrachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. »Das ist ja echt … supertoll.« Die Worte kamen langsam und undeutlich hervor.
»Schon bald werde ich dieser Nikolausscharade ein
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