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Krampus: Roman (German Edition)

Krampus: Roman (German Edition)

Titel: Krampus: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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soll den Schlitten ausfindig machen. Den alten, jenen, auf dem er mich nach Amerika gebracht hat. Der steht mit Sicherheit im Stall, was ein guter Ausgangspunkt ist. Er fragte sich, ob der Schlitten überhaupt noch existierte. Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
    Er schloss die Augen, stellte eine Verbindung zu dem Sack her und spürte seinen Herzschlag. Jetzt, da er wieder bei Kräften war, war es so einfach, es ging beinahe mühelos. Nun dachte er an den uralten Schlitten, rief sich dessen Bild vor Augen, und der Sack reagierte. Er sah, wie Himmel und Ozean an ihm vorbeirauschten, und erhaschte einen kurzen Blick auf eine Festungsanlage aus mächtigen weißen Steinen. Dies war kein Ort von Schneemännern und Zuckerstangen. Dort ist er … der Schlitten! Krampus schlug die Augen auf. »Die Pforte ist geöffnet.«
    Der Herr der Julzeit trat aus dem Kreis und ging zu den beiden Wölfen hinüber, die Seite an Seite auf dem Boden lagen. Er hockte sich neben sie und strich ihnen über das dichte Fell. »Geri, Freki, wir müssen nun gehen. Bewacht den Sack. Lasst nicht zu, dass jemand ihn stiehlt. Wenn ihr Sankt Nikolaus riecht, dann haben wir versagt.« Geri stieß ein tiefes Winseln aus. »In dem Fall ist es mein Wunsch, dass ihr den Sack zerfetzt. Verstanden?«
    Freki bellte.
    Krampus stand auf und blickte auf den Sack. Nun waren alle Figuren im Spiel. Er hob den Speer auf, ließ den Finger an der Spitze entlanggleiten und prüfte wohl zum hundertsten Mal, wie scharf sie war. Dann atmete er tief durch. Es ist Zeit, endlich zurückzuholen, was mir gehört.

    ***

    Sankt Nikolaus nahm ein kleines, in Leder gebundenes Buch aus dem Regal in seinem Arbeitszimmer, legte es behutsam auf den Schreibtisch und berührte das in den Umschlag geprägte Symbol. Er strich an den ausgefransten Kanten der Seiten entlang über den rissigen Bund und blätterte behutsam die spröden Pergamentseiten um, bis er schließlich auf die grobe Tuschezeichnung eines dünnen, bärtigen Mannes mit strenger Miene stieß, der einen Hirtenstab in der Hand hielt. Sankt Nikolaus ließ die Finger entlang der Bildunterschrift über das rauhe Pergament gleiten. »Mildtätigkeit gegen andere ist sich selbst Lohn genug«, flüsterte er.
    Er blickte aus seinem Fenster aufs Mittelmeer hinaus. Die letzten Ausläufer des Sonnenlichts glitzerten auf den Wellen. Er schloss die Augen, atmete die warme, salzige Luft tief ein und zwang sich, an die Zeit zurückzudenken, als sein Kerker gebrannt hatte, sich an die Schreie zu erinnern, als Ragnarök ganz Hel verzehrt hatte, ganz Asgard, daran, wie die Seele seiner Frau vor seinen Augen verbrannt war.
    »Die Flammen leckten mir über die Haut«, flüsterte er an das Buch gerichtet. »Aber das Ende kam nicht, und damit auch keine Erlösung von meiner Qual. Ich schaute zu, wie alles aufgezehrt wurde, bis ich alleine dastand, die einzige lebende Seele in einer Welt, die nur noch aus Asche und rußgeschwärzten Knochen bestand. Gott, die Eine über allen anderen, sandte ihre Engel aus, die Walküren, die mich nach Midgard trugen, wo sie mich nackt als Landstreicher zurückließen. Jahrelang zog ich ziellos umher. Ich versagte mir Nahrung und Wasser, setzte mich den Elementen aus, in der Hoffnung, zu sterben. Ich stürzte mich sogar von hohen Klippen, doch vergeblich, denn mein Fleisch wollte den Tod nicht. Dann fand Krampus mich und zwang mich in seine Dienste – machte mich, den Sohn Odins, zum Handlanger eines niederen Dämons. Es war mir egal, ich spürte nichts. Leer war mein Herz, leer auch meine Seele, und ich gelangte zu der Überzeugung, dass dies mein Schicksal war, meine Buße, dass man mich verschont hatte, um mich nicht allein für meine Eitelkeit und Arroganz zu quälen, sondern für die all meiner Vorfahren. Ich war verloren und in jeder Hinsicht, nur nicht im Fleische, tot.«
    Behutsam schlug er das Buch zu und barg es an seiner Brust. »Deine Worte, Sankt Nikolaus, haben den Weg in meine Seele gefunden und mich an die Tage vor Ragnarök erinnert, vor Hel, vor all den Intrigen, dem Verrat und den kleinlichen Ränkespielen der Götter. An die Zeit, als ich wohltätig und edel durch die Lande zog und nach der einfachen Freude strebte, den Niedergedrückten Mut zu machen. An die einzige Zeit, in der ich glücklich war.«
    »Ich dachte mir schon, dass ich dich hier antreffen würde.«
    Eine schlanke Frau mit wallendem weißen Haar und alterslosen Augen betrat den Raum. Sie trug ein tiefrotes,

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