Krank für zwei
Betracht. Was hatte sie denn für ein Motiv?
Marlene Oberste lehnte sich ans Auto und schaute nach oben. Ein Mäusebussard zog seine Runden. Man hätte denken können, er habe sie ins Visier genommen. Die Hauptkommissarin dachte an das Telefonat, das sie heute morgen mit ihrem Hagener Kollegen Steinschulte geführt hatte. Sie hielt viel von Steinschulte. Er war jemand, der sich schnell in einen Fall hineindenken konnte und neue Ansätze fand. Steinschulte hatte angeregt, Peulers Lebenslauf stärker einzubeziehen. Damit hatte er eine offene Wunde getroffen. Schon wiederholt war Marlene der Gedanke gekommen, daß sie genau diesem Ansatz zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Aber sämtliche Hinweise hatten auch so eng mit dem Krankenhaus zu tun gehabt. Zum Beispiel die blutigen Schleifspuren unter Peulers Kopf. Jemand hatte dem Chefarzt ein Blatt unter dem Kopf weggezogen, ein Papier, das mit Sicherheit wichtig war. Es konnte der Schlüssel sein, der entscheidende Hinweis, das Mordmotiv. Vielleicht Wolkovs Entlassung, ein Schreiben an die Verwaltung. Oder aber ein Gutachten in einer ganz anderen Angelegenheit. Eine Patientensache oder so etwas in der Art.
Auf jeden Fall würden sie weiter nach Wolkov fahnden. Jan Vedder und die zwei neu gekommenen Kollegen hatten die Sache in der Hand, und sie war sicher, daß sie die Aufgabe korrekt weiterfuhren würden. Trotzdem drängte sich Marlene Oberste jetzt der Verdacht auf, daß sie etwas außer acht gelassen hatte. Daß etwas ganz anderes dahinterstecken könnte, etwas Privates, etwas, das mehr mit der Vergangenheit der Peulers als mit ihrem jetzigen Leben zusammenhing. Das schwarze Haar, das man im gestohlenen Jeep gefunden hatte, gehörte einer Frau. Das hatte die DNA-Analyse längst ergeben. Einer sehr jungen Frau. Und das Labor hatte zudem angegeben, daß es schon vor langer Zeit abgeschnitten worden sei. Vor mindestens zwanzig Jahren, schätzte man. Das war doch etwas, immerhin ein Hinweis. Folglich hatte sich Marlene Oberste daran gemacht und zunächst Hartmut Peulers Lebenslauf zu rekonstruieren versucht.
1940 war er geboren, im ersten Kriegsjahr. Sein Vater war noch im selben Jahr gefallen, daher war der Junge ein Einzelkind geblieben. Ehrlich gesagt, hatte Marlene Oberste das enttäuscht. Eine Schwester, das wäre eine Spur gewesen. Das hätte irgendwie zu dem Haarbüschel gepaßt, das in diesem Fall eine wesentliche Rolle zu spielen schien. Aber es gab eben keine Schwester, auch keine zu kurz gekommene Halbschwester. Gab’s nicht, war nicht. Nun, dann hatte es vielleicht eher mit einer Liebschaft zu tun. Die ersten drei Jahre hatte die Mutter mit dem Jungen in Recklinghausen gelebt, dann war sie aus Angst vor Bombenangriffen zu Verwandten aufs Land gezogen, in die Nähe von Bielefeld. Dort war der kleine Hartmut auch zur Schule gegangen und hatte Abitur gemacht. Zum Studium war er nach Frankfurt gewechselt, weil dort ein weiterer Onkel lebte, bei dem er günstig hatte wohnen können. All das wußte Marlene nicht aus Peulers Personalakte, die sie sich kopiert hatte, sondern von Peulers Sekretärin. Manchmal habe ihr Chef eine sentimentale Stunde gehabt, hatte Hannelore Merz berichtet, und dann habe er von früher erzählt.
Als junger Arzt war Peuler dann wieder in Richtung Heimat gewechselt Detmold, wo er seine Frau kennengelernt hatte, später eine Oberarztstelle in Soest, von da aus dann die Bewerbung ins Sauerland. Marlene strich sich durchs Haar. Irgendwo in dieser Zeit mußte etwas begraben sein. Irgend etwas, das mit der Frau mit den schwarzen Haaren zu tun hatte. Aber es war alles so schwierig, jetzt da Eva Peuler ebenfalls tot war. Es gab so wenig Anhaltspunkte. Keine Geschwister, keine Kinder, die man hätte löchern können. Die Befragung der Nachbarn hatte ergeben, daß sie zwar mit den Peulers durchaus einen freundlichen Kontakt gepflegt hatten, daß es aber letztlich doch immer beim Small talk über die gepflegte Gartenhecke geblieben war. Die Peulers wohnten in einer noblen Gegend. Da wurden nicht gerade regelmäßig Straßenfeste gefeiert. Natürlich hatten die Peulers in der Stadt eine Menge Kontakte gehabt, allein durch die ehrenamtlichen Projekte der Ehefrau. Außerdem war Herr Peuler sehr sportlich gewesen. Er war regelmäßig joggen gegangen, nebenher hatte er Tennis und Golf gespielt. Trotzdem war bislang noch keine einzige Person bekannt geworden, die sich als echte Freundin oder echter Freund des Paars bezeichnet hätte. Gut, da gab es wohl
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