Krank (German Edition)
Eifer des Gefechts verdrängt hatte: dass der schmächtige Mann sich dem Leichnam genähert hatte, als laufe er über eine schmale Planke und müsse immer wieder anhalten aus Furcht, in einen Abgrund zu fallen. Dass seine Gesichtsmuskeln zuckten und er mit einer Heftigkeit auf Burtons Kopf eingedroschen hatte, die beängstigend gewesen war. In Nachhinein kam es mir fast so vor, als hinge sein Leben von der Verwüstung des Gesichtes ab.
Mit leiser Hypnotiseurstimme entlockte Jeremy mir die Erinnerungen und legte hin und wieder kleine Pausen ein, um die Informationen zu verdauen und zu analysieren. Gegen halb neun stiegen wir aus dem Krankenwagen, bedankten uns beim Fahrer und schauten den Rücklichtern hinterher, die in der dunklen, stillen Schlucht verblassten.
»Jeremy, der Mann mit dem Baseballschläger«, fragte ich meinen Bruder, der gerade im Begriff war, die Haustür zu schließen, »ist das der Mörder, den wir suchen?«
»Nein, Carson«, entgegnete Jeremy. »Dieser Typ ist bloß ein Opportunist.«
Ich nickte nachdenklich, ging das kurze Stück zu meiner Hütte, genoss die Stille und freute mich schon auf mein Bett.
*
Irgendwann in den frühen Morgenstunden beendete ein Schädelpochen meinen Schlaf. Oder vielleicht ließ mich auch ein Bild, ein Erinnerungsfetzen, aufwachen: die alte Dame, die an dem Angreifer vorbeiging. Sie war bei seinem Anblick zwar nicht gerade zusammengezuckt, aber zumindest irritiert. Da mir dieses Detail entfallen war, hatte ich es nicht erwähnt. Ich machte mir eine Notiz, damit ich es nicht wieder vergaß. Am späten Morgen rief Cherry an.
»Schildern Sie mir doch bitte noch mal, wie diese Frau ausgesehen hat«, bat sie nach meinem Bericht.
Ich wiederholte die Beschreibung. »Kennen Sie so jemanden?«
»Miss Ida Minton«, sagte Cherry. »Früher war sie eine Art Institution. Mir kam es immer so vor, als wäre sie mindestens achthundert Jahre Bibliothekarin in unserer Highschool gewesen. In meinem zweiten Jahr ging sie allerdings in Rente.«
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Können Sie eine Stunde Ihrer kostbaren Zeit erübrigen?«
Kapitel 22
Miss Minton wohnte in einem kleinen Altenheim in der Nähe von Campton. In ihrem tadellos aufgeräumten Zimmer roch es nach Lilien und Babypuder. Sie trug einen pinkfarbenen Hosenanzug aus Polyester, einen dicken weißen Pulli und blaue Hausschuhe.
»Miss Ida ist ein bisschen verwirrt« , hatte mich Cherry vor dem Gedächtnis der alten Dame gewarnt. »Manchmal erinnert sie sich an ein klitzekleines Detail, und innerhalb von Sekunden weiß sie nicht mehr, wo sie ist.«
Ich balancierte auf einem Stuhl mit wackeligen Beinen, während Cherry die pensionierte Bibliothekarin zu dem Baseballschläger schwingenden Fremden in der Kirche befragte.
»Wer?«, fragte Miss Minton.
Ich beugte mich vor und durchforstete mein Gedächtnis. »Mir ist aufgefallen, wie Sie in der Kirche zweimal zu dem Mann hinübergeschaut haben, Miss Ida«, meinte ich schließlich.
»Ich erinnere mich nicht. An welchem Tag soll das gewesen sein?«
»Gestern, Miss Ida«, klärte Cherry sie auf und griff nach ihrer zerbrechlichen Hand. »Da hat Sonny Burtons Aufbahrung stattgefunden.«
Die Frau runzelte die Stirn und dachte kurz nach. »Ich entsinne mich an Sonny Burton. Der Bursche hat nicht gern gelesen. Bei dem war Hopfen und Malz verloren.« Sie musterte Cherry. »Hat es da nicht irgendein Durcheinander gegeben? Nach der Aufbahrung?«
»Ja, Ma’am. Das ist genau der Zwischenfall, für den Mr. Ryder sich interessiert. Und er möchte auch noch etwas über einen anderen Herrn erfahren, den Sie vielleicht erkannt haben.« Sie wiederholte meine Beschreibung.
Zuerst reagierte sie überhaupt nicht, doch dann leuchteten ihre Augen hinter den Brillengläsern auf. »Habe ich dort nicht einen Schüler namens Willie Taithering gesehen, der vor zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren auf unserer Highschool war?«
»Keine Ahnung, Miss Ida«, meinte Cherry. »Das müssen Sie uns sagen.«
Sie hielt inne und tippte mit einem zitternden Zeigefinger an ihr Kinn. »Oder war das später … im Supermarkt?«
Cherry warf mir einen Blick zu. Ich schloss die Augen. »In der Kirche, Miss Ida«, bohrte Cherry nach.
Unglücklicherweise konnte man Miss Idas sprunghaften Geist nicht festpflocken. »Ich wollte ein paar frische Pfirsiche aus dem Laden, aber die waren hart wie Stein. Ich habe trotzdem welche gekauft und sie daheim in eine Papiertüte gelegt. Möchtet ihr Pfirsiche,
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