Kratzer im Lack
Straße gegangen. »Lass mich mal fahren«, hat Hans gesagt.
Herbert hat den Kopf geschüttelt.
»Ich geb dir auch was dafür.«
»Was?«
Hans hat in seiner Tasche gewühlt. »Ich hab nur noch zwanzig Pfennig.«
»Gut«, hat Herbert gesagt. »Eine Runde.«
Er hat das Geld eingesteckt und zugeschaut, wie Hans auf sein Rad gestiegen ist. Die Runde um den Häuserblock hat lang gedauert, endlos lang. Herbert ist Hans nachgerannt, um den ganzen Block herum, und ist keuchend wieder vor dem Haus angekommen. Hans war nicht da. Herbert hat sich auf die Treppe gesetzt und fast geheult vor Wut. Dann ist Hans endlich gekommen und vom Rad gesprungen. »Du warst nicht da, als ich nach einer Runde zurückgekommen bin. Da bin ich noch eine gefahren.«
Seither hat Herbert das Rad nicht mehr verliehen. »Mein Vater will das nicht«, hat er immer gesagt, wenn er gefragt worden ist.
»Na, wie ist es? Wollt ihr mal mit meinem Rad fahren?«
»Ich denke, dein Vater hat es verboten«, sagt Jossi. Er hat Schnupfen und wischt sich immer wieder mit dem Ärmel über seine Nase. Weißlicher Schleim bleibt daran hängen. Herbert muss schnell zur Seite schauen.
»Mein Vater ist nicht da. Er kommt erst abends.«
Sie gehen zu dritt in den Keller. Es ist unbequem, dass er sein Rad im Keller abstellen muss und nicht im Gang zwischen der Hintertür und der Treppe wie die anderen. Aber sein Vater hat das verlangt. »Im Flur? Bist du verrückt geworden? Weißt du nicht, was alles geklaut wird?«
Und seine Mutter hat genickt. »So ein teures Rad.«
Es ist wirklich schön. Herbert genießt den Neid der beiden anderen. Aber als Hans nach dem Fahrrad greift, tut ihm das fast weh. Am liebsten hätte er gesagt: Nicht, du hast dreckige Finger. Du musst dich erst waschen.
Dann sitzt Herbert mit Jossi auf der Treppe vor dem Haus. »Hast du gehört?«, fragt er. »Heute Morgen ist die Polizei hier gewesen.«
Jossi wischt sich die Rotzglocke weg. »So ein schönes Auto. Das versteh ich nicht. Ich wollte, wir hätten so ein Auto.«
Herbert schweigt und wartet, versucht, den Rotz auf Jossis Ärmel zu übersehen, daran vorbeizuschauen. Aber er kann nicht, immer wieder fällt sein Blick darauf. Ihm wird fast schlecht.
»Meine Mutter sagt, das kann nur einer gewesen sein, der sich wegen der Kaminski aufgeregt hat«, sagt Jossi. »Aber mein Vater glaubt, das waren Rocker.«
Jetzt popelt Jossi auch noch in der Nase herum.
Hans ist zurückgekommen. »Mein Vater sagt auch, dass das Rocker gewesen sind.«
»Rocker«, sagt Jossi verträumt. »So mit dem Motorrad rumfahren, sich nichts gefallen lassen, zuschlagen, wenn einem jemand blöd kommt. Das wär was!«
Herbert ist ganz still. Rocker sind es gewesen. Bald werden es alle sagen, dass es Rocker gewesen sind. Er ist erleichtert. Trotzdem schaut er die ganze Zeit die Straße hinunter. Ein Haus steht neben dem anderen, graue Steinblöcke, Gardinen, Blumenstöcke an manchen Fenstern. Dort drüben ist der Laden von der alten Kronawitter, bei der er jeden Morgen seine Banjos kauft. Vier Häuser weiter ist der Schuhmacher. Er ist auch schon alt. Gesundheitsschuhe hat er in seinem Schaufenster.
»Ich möchte wissen, von was der lebt«, hat die Mutter gesagt. »Der geht doch gar nicht, der Laden. Und wer lässt sich heute schon noch Schuhe reparieren.«
Es ist keine schöne Straße, kein einziger Baum, nur Steine und Asphalt.
Jedes Mal, wenn Herbert ein Auto kommen hört, denkt er: Das wird die Polizei sein. Und sein Bauch wird erst wieder locker, wenn es kein grüner Wagen ist mit Blaulicht auf dem Dach.
Herbert atmet laut aus. »Die Rocker aus der Potsdamer Straße, meinst du, dass die das gewesen sind?«
Hans nickt. »Glaub schon. Wer denn sonst?«
Herbert steht auf. Sein Hintern ist eiskalt.
»Du sollst dich nicht auf Steine setzen«, sagt seine Mutter immer. »Du weißt doch, wie empfindlich du bist.«
Herbert mag die Stimme seiner Mutter nicht. Sie ist ein bisschen zu schrill. Und jeder kann hören, dass die Mutter nicht von hier ist. Sie kommt aus dem Rheinland.
Jossi biegt um die Ecke, bremst scharf ab und springt vom Rad. »Das ist wirklich ein tolles Rad«, sagt er. »Ich wollte, ich hätte auch so eins.«
Herbert legt seine Hände auf den Lenker. Wie blöd die sind, die beiden. Wie langweilig. Warum hat er nur so lang hier herumgesessen? »Ich fahr jetzt zu einem Freund«, sagt er. »Servus.« Er dreht sich noch mal um, als er aufsteigt. Jossi hat wieder den Ball in der Hand.
»Wollen
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