Kratzer im Lack
wir?«, fragt er.
Hans schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Lust mehr.«
Herbert fährt los, an den Häusern vorbei. Der Wind ist kalt, er fährt schneller, um sich zu wärmen, fährt um die Ecke in die Potsdamer Straße und ärgert sich, dass er an jeder Kreuzung halten und nach rechts und links schauen muss, obwohl doch kaum Autos fahren. Er fängt an zu schwitzen, sein Hemd wird feucht, aber sein Gesicht brennt vor Kälte und seine Finger tun weh. Er muss lange fahren, dann ist er endlich auf der Landstraße. Er legt sich weiter nach vorn, tritt fester in die Pedale. Er kann nichts mehr denken, sein Atem geht keuchend. Die Straße führt jetzt bergab, die Bäume fliegen an ihm vorbei. Das ist schön. Er schreit, und der Wind reißt ihm die Schreie vom Mund, noch bevor Herbert sie gehört hat.
Dann geht die Straße wieder bergauf. Die Bäume stehen kahl gegen den verhangenen Himmel. Herbert kann nicht mehr, er steigt ab. Trotz der Autos, die immer wieder an ihm vorbeifahren, ist er allein. Er schaut sich um. Viel ist nicht zu sehen, Gebüsch auf der linken Seite, rechts ein paar Felder. Aber die neue Siedlung ist nicht weit. Wie Streichholztürme ragen vier Hochhäuser aus den Blocks. Irgendwann, wenn der Bausparvertrag reif ist, wollen die Eltern eine Wohnung in so einer Siedlung kaufen.
Herbert würde gern mal richtig auf dem Land sein. Nein, nicht im Wald, im Wald hat er Angst. Ein Wald ist düster. In diesem Zwielicht kann hinter jedem Baum Gefahr lauern. Verfolger können sich im Wald verstecken, Mörder. Nein, kein Wald. Er möchte mal über freies Land fahren, durch Felder und Wiesen, so weit man sehen kann. Oder Steppe, weites Grasland, und ganz in der Ferne die Berge. Mit einem Pferd würde er darüber galoppieren wie ein einsamer Held. Nein, nicht einsam. Bewunderer will er. Helden werden nicht geliebt, Helden werden bewundert.
Butch nimmt die Zügel an und drückt seinem Pferd die Stiefel in die Flanken. Er ist der Gefahr entkommen, er ist wieder frei. Die Hufe seines Pferdes trommeln über die weite Steppe. Butch reitet der Freiheit entgegen. Bald wird er bei seinen Männern sein.
Herbert lehnt sein Fahrrad an einen Baum. Es ist kalt. Er reibt seine schmerzenden Hände, bis das Stechen aufhört und die Haut wieder rot und lebendig wird. Am liebsten hätte er seine Schuhe von den steifen Füßen gezogen und sie auch so gewärmt.
Dann schiebt er das Fahrrad den Berg hinauf. Obwohl das Unterhemd an seinem Körper klebt, fröstelt er. Keine Freiheit, kein Traum von Weite und Einsamkeit. Jetzt wünscht er sich einfach nur zurück in sein warmes Zimmer. Auch die angenehme Leere in seinem Kopf ist wieder weg. Die Kälte treibt ihn die Straße hinauf, wieder in die Stadt zurück, zu den grauen Häusern, zu der Wohnung im dritten Stock rechts.
12.
Frau Kronawitter findet lange keinen Schlaf in dieser Nacht. Sie ist unruhig. Erinnerungen drängen sich ihr auf, Erinnerungen, die sie viele Jahre lang weggeschoben hat.
Sie denkt daran, wie es war, als sie Ludwig verloren hat. Nicht damals, als er gestorben ist, sie hat ihn vorher verloren, lange vorher. Dreizehn Jahre ist er alt gewesen, als sie ihn verloren hat. Und später, als er verunglückt ist, ist das nur eine Wiederholung gewesen.
Nach diesem Abend, als der Polizist ins Haus gekommen ist, hat sie keinen Sohn mehr gehabt. Auch einen Teil von Theo hatte sie verloren, ihr Vertrauen zu ihm war weg, eigentlich auch ihre Liebe zu ihm. Die ganzen Jahre danach, die neun Jahre, die sie dann noch zusammen gewesen sind, haben sie nebeneinander hergelebt wie Fremde, ohne Liebe und ohne Streit. Man hat nicht streiten können mit Theo.
Beim Abendessen haben sie an jenem Abend gesessen, als der Polizist hereingekommen ist, der Schmid Manfred war es, sie haben ihn alle gekannt, er hat ja nur zwei Straßen weiter gewohnt.
»Kommen Sie herein, Herr Schmid«, hat Theo gesagt. »Wollen Sie ein Glas Bier mittrinken?«
»Nein. Ich bin dienstlich hier.«
Theo hat gelacht, aber es war kein echtes Lachen, und sie hat gesehen, wie er schnell zu Ludwig hinübergeschaut hat. Ludwig hat still am Tisch gesessen. Er war blass und hat nichts gesagt. Nur aufgehört zu essen hat er.
Der Schmid Manfred ist an der Tür stehen geblieben, er hat sich nicht hingesetzt.
»Wir haben den Wiedemann Karl geschnappt«, hat er gesagt. Man hat ihm angesehen, wie unangenehm ihm das war. »Der Wiedemann ist in den Bahnhofskiosk eingebrochen, mit ein paar anderen. Es ist nicht das Erste,
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