Kraut und Rübchen - Landkrimi
dem Haus, weg vom Hof, mir Sauerstoff durch Lungen und Hirn jagen, um diese Beklemmung loszuwerden.
Ich ging in den Flur und nahm meine Jacke vom Haken. Das Buch ließ ich liegen, wo es war. Es war mir egal, wer es sah. Anscheinend wussten alle von seiner Existenz, da konnten sie es auch lesen.
Was immer es auch für Geheimnisse barg, meine waren es nicht.
Die Straße zog sich schnurgerade dahin. Selbstmörderallee, dachte ich beim Anblick der Bäume und stellte mir kurz die Sorgen der Halbwüchsigenmütter vor, wenn ihre Söhne abends mit den in heimischen Scheunen getunten und tiefergelegten Autos Imponierrennen fuhren. Die dicken Stämme der Eichen würden sicher jeden Wettkampf gegen dünnes Wagenblech rigoros gewinnen.
Ich ging einfach immer geradeaus. Schritt um Schritt. Je weiter ich ging, umso mächtiger wurden die Stämme. Einige von ihnen standen sicher schon Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte an der Allee.
An meiner rechten Seite tauchte unvermittelt ein schmiedeeisernes Tor auf, flankiert von zwei kantigen Säulen, auf denen Engel hockten. Der Friedhof. Gesäumt von hohen Hecken lagen hier die Toten von Kleinhaulmbach. Das letzte Mal war ich als Kind an diesem Ort gewesen. Ich legte meine Hand auf die Klinke des Tors und drückte sie hinunter. Die Scharniere quietschten leise.
Eine niedrige Mauer trennte das Gräberfeld in zwei ungleiche Hälften.
Links reihten sich dunkle und helle Grabsteine aneinander. Manche schmal, andere breit. Vermutlich hatten hier ganze Familien ihre letzte Ruhe gefunden. Auf der rechten Seite der Eibenhecke erstreckte sich eine Wiese mit vereinzelten Bäumen, die allem Anschein nach noch nicht allzu lange dort standen. An einigen Stellen erkannte ich kleine Findlinge, willkürlich angeordnet.
Ich ging auf einen der Findlinge zu, bückte mich und las. Geburts- und Sterbedaten, ein Name, der mir nichts sagte. Der nächste einige Meter weiter. Weitere Daten, eine kleine stilisierte Blume.
»Erwin Wintherscheid.« Ich pfiff leise durch die Zähne. Dafür, dass ihre Witwenschaft noch kein Jahr alt war, ging es Ellen Wintherscheid erstaunlich gut. Zumindest nach außen hin.
Ich schlenderte weiter über die Wiese. Ob die Toten hier nur in Urnen bestattet oder ihre Asche auch unter den Bäumen verstreut wurde, wusste ich nicht. Der Gedanke, über eine mit Leichenresten gedüngte Wiese zu schlendern, behagte mir nicht. Ich wandte mich in Richtung Ausgang.
Entlang der hüfthohen Hecke am Rand der Wiese standen alte Grabsteine, eng nebeneinander aufgereiht. Ich spähte auf die gegenüberliegende Seite der Hecke.
Sie trennte den Friedhof in zwei Teile. Einen, auf dem ordentlich in Reih und Glied Gräber angelegt waren. Alte und auch neuere. Dazwischen Kieswege für die Besucher. Die Grabsteine vor meinen Füßen waren alt, die Daten und Inschriften nur noch schwer zu erkennen. Wind und Regen hatten den weichen Stein geschliffen.
Ich trat dicht vor den ersten in der Reihe, bückte mich und kniff die Augen zusammen, konnte aber trotz aller Anstrengung nichts entziffern.
Ich sah mich um. Wenn Winter gewesen wäre und Schnee gelegen hätte, wäre es ein Leichtes, die Schrift sichtbar zu machen. Diesen Trick hatte mir einmal eine Kollegin erzählt, die sich mit historischen Recherchen auskannte. Wenn man Schnee über die Grabsteine rieb und anschließend vorsichtig abwischte, blieb ein Teil davon in den Vertiefungen der Schriftzeichen hängen und machte sie so sichtbar. Aber es lag kein Schnee.
Ich trat vor den nächsten Stein. Die Jahreszahl war lesbar. 1698. Von Stein zu Stein ging es leichter. Ich blieb stehen, schloss die Augen und versuchte, mich an das Bild des Friedhofs zu der Zeit zu erinnern, als ich ein Kind war. Anscheinend hatte man den alten Teil des Dorffriedhofes in eine Urnenwiese gewandelt und die alten Grabsteine zur Erinnerung aufbewahrt, chronologisch sortiert.
»Dann muss doch auch …«, murmelte ich und ging schneller an den Reihen und aufsteigenden Jahreszahlen entlang, bis ich auf einen größeren Stein stieß, dessen Inschrift noch gut zu lesen war.
»Hier ruhet Josef Froböss« stand in der ersten Zeile, und darunter: »Er wurde durch einen plötzlichen Tod aus der Mitte der Familie gerissen, indem er verunglückte durch einen Sturz vom Pferde.«
Fieberhaft suchte ich nach dem nächsten Namen, der im Tagebuch vorkam, und fand ihn einige Schritte weiter. Gustav Mayerhofer. Den Rest der Inschrift hatte der Zahn der Zeit verwischt. Eine stilisierte
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