KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Patienten, hatte aber mit dem ihm zur Verfügung stehenden »Material« etwas Neues versucht. Jedem der 86 an Lungenkrebs erkrankten Männer ordnete Müller einen gesunden Mann zu, der hinsichtlich aller wesentlichen Merkmale dem Erkrankten möglichst ähnlich war. Als er die Gruppe der Erkrankten mit der Kontrollgruppe der Gesunden verglich, stellte er fest, dass sich unter den Lungenkrebskranken 6 Mal so viele starke Raucher befanden als in der Gruppe der Gesunden. Ein solches Verfahren nennt man in der Statistik Matched-Pair-Analyse.
Tatsächlich wurde Müllers Arbeit zu einer der wissenschaftlichen Grundlagen der Anti-Raucher-Kampagne im NS-Deutschland. Die Abneigung der Nationalsozialisten gegen das Rauchen war vorwiegend ideologisch bedingt, aber nicht von harten Fakten getragen; tatsächlich war ausgerechnet das nationalsozialistischeDeutschland das erste Land der Welt, das systematische Antiraucherkampagnen startete. Der Zweite Weltkrieg und die Nationalsozialisten selbst trugen dazu bei, dass die Ergebnisse der Kampagne außerhalb Deutschlands weder bekannt noch anerkannt noch populär wurden. 11
So startete Doll seine Arbeit mit der idealen Gemütsverfassung für korrektes wissenschaftliches Arbeiten, nämlich ausgesprochen skeptisch gegenüber der eigenen Hypothese. Dass Rauchen irgendetwas mit der Lungenkrebsepidemie zu tun haben könnte, glaubte er nicht. Die nackten Zahlen seiner Forschungen belehrten ihn nach und nach eines Besseren.
Im Rahmen ihrer ersten Arbeit untersuchten Doll und Hill die Geschichte von 649 Patienten mit Lungenkrebs. Sie analysierten diese Gruppe mit Hilfe einer Strategie, die der von Müller sehr ähnlich war; allerdings bedienten sie sich eines deutlich raffinierteren statistischen Handwerkszeugs und waren von ihren Ergebnissen schlicht verblüfft. Wer unter den Patienten mehr als 25 Zigaretten am Tag rauchte, hatte ein 25 Mal höheres Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, als die Nichtraucher, lautete das Fazit der Untersuchung. Kurz zuvor, im Mai 1950, hatte auf der anderen Seite des Atlantiks ein amerikanischer Arzt namens Ernst Wynder eine sehr ähnliche Studie mit 684 Patienten veröffentlicht, die zu demselben Ergebnis gelangte. 12 Beide Arbeiten hinterließen im Bewusstsein der Öffentlichkeit seltsamerweise kaum Spuren. Sogar in den Kreisen der Spezialisten stießen sie zunächst vorwiegend auf Unglauben und Skepsis.
Ob eine Substanz krebsauslösend wirkt, kann man von zwei vollkommen unterschiedlichen Perspektiven zu beantworten versuchen: Man stellt die Situation im Labor experimentell nach oder überprüft die Wirklichkeit mit Hilfe der epidemiologischen Statistik. 13 Experimentelle Strategien der Beweisführung gegen das Rauchen gab es zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichungen von Doll, Hill und Wynder noch nicht. Sie gingen das Problem daher anders an, nicht aus der Froschperspektive des Labors, sondern aus der Vogelperspektive der Feldstudie. Solche Untersuchungen sind das Geschäft der Epidemiologen. Sie beobachten echte Menschen im wirklichen Leben und versuchen mit statistischen Mitteln, das komplexe Geflecht von Ursachen, Kofaktoren, Epiphänomenen und Wirkungen zu entwirren.
Eine rückblickende Untersuchung von Menschen, die tatsächlich an Lungenkrebs erkrankt sind, in der Art, wie sie schon Franz Herrmann Müller und dann auch Doll, Hill und Wynder durchgeführt haben, birgt Tücken. Auchwenn Raucher viel häufiger an Lungenkrebs erkranken als Nichtraucher, ist damit nicht bewiesen, dass der Tabakkonsum tatsächlich die Ursache der Erkrankung ist. Das Mantra kluger und vorsichtiger Epidemiologien lautet: Koinzidenz ist nicht gleich Kausalität! Es wäre denkbar, dass eine vom Rauchen abhängige Co-Variable der wahre Schuldige ist. Es wäre möglich, dass sich Raucher im Durchschnitt schlechter ernähren, weniger bewegen, einen niedrigen sozio-ökonomischen Status haben … Eine solche versteckte Co-Variable könnte dem wahren Schuldigen durchaus als Tarnung und Mimikry dienen. Die Gefahr der Kontamination eines Ergebnisses durch versteckte Co-Variablen kann nie grundsätzlich ausgeschlossen werden. Sie kann aber minimiert werden, wenn man die Kriterien intelligent auswählt, die der Paarbildung einer retrospektiven Analyse zugrunde liegen, wodurch die schiere Größe der untersuchten Gruppen erheblich sinkt.
Nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft herrschte zunächst Skepsis gegenüber den Schlussfolgerungen von Hill, Doll und Wynder.
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