KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Einzelfallist die Entstehung von Krebs einer starken Zufallskomponente unterworfen. Daher gibt es bezogen auf den Einzelfall auch keine Dosis-Wirkungs-Beziehung wie bei klassischen Giften. Der Krebs tritt eben entweder auf oder auch nicht, egal ob der Betroffene vorher 5000, 50
000 oder 200
000 Zigaretten geraucht hat. Betrachten wir aber größere Gruppen, lässt sich auch bei den Kanzerogenen eindeutig ein Zusammenhang zwischen Dosis und Effekt beobachten. Je mehr Zigaretten im Laufe eines Lebens konsumiert werden, desto höher ist das Krebsrisiko. 20
Ein weiterer fundamentaler Unterschied
zu üblichen Vergiftungen ist die große Latenzzeit zwischen der Exposition und dem Auftreten der Krankheit. Es vergehen viele Jahre, oft Jahrzehnte, bis eine Krebskrankheit manifest wird. Auch diese Latenz weist deutlich darauf hin, dass der Entstehung von Krebs ganz andere Mechanismen zugrunde liegen als den klassischen Vergiftungen.
Fassen wir die Indizien zusammen. Ohne Zweifel gibt es chemische Stoffe in unserer Umwelt, die das Potenzial haben, eine Krebserkrankung auszulösen. Immerhin gewinnen krebskranke Raucher inzwischen auch den einen oder anderen millionenschweren Prozess gegen die Zigarettenindustrie. Trotzdem ist Krebs alles andere als eine typische Vergiftung.
Was uns weiterbringen könnte, ist der Blick auf die gar nicht so feinen Unterschiede zwischen den Kanzerogenen und den klassischen Giften. Die Zufallskomponente, die fehlende Dosis-Wirkungs-Beziehung im Einzelfall und auch die Latenz zwischen Ursache und Wirkung weisen darauf hin, dass es zwischen Gift und Krankheit einen Mittler geben muss. Gifte schädigen unmittelbar. Kanzerogene dagegen sind vermutlich wie Steinchen, die unter entsprechend unglücklichen Umständen tief in uns etwas ins Rollen bringt, das den Körper in eine Krebserkrankung treibt.
Viele Menschen erkranken an Krebs, ohne dass ihre Biographie irgendeinen Hinweis auf einen Kontakt mit Kanzerogenen liefert. Nicht einmal strikte Nichtraucher sind immun gegen Lungenkrebs. Selbst bei Neugeborenen finden sich, wenn auch selten, bösartige Tumoren. Wir beobachteten im 20. Jahrhundert zwar eine Krebsepidemie – und dennoch ist Krebs keine Erkrankung der Moderne. Manche Krebskrankheiten werden sogar seltener. Krebs ist darüber hinaus eine Krankheit, die die Menschheit seit ihren Anfängen begleitet, wie steinzeitliche Funde von Metastasen in Menschenknochen belegen. Fast alle Wirbeltiere, so sie denn lange genug leben, können an Krebs erkranken. Der bisher älteste Hinweis auf eine Krebserkrankung stammt ausden Knochen eines Dinosauriers, der vor über 135 Millionen Jahren starb. Schwer vorstellbar, dass dabei immer chemische Kanzerogene ihre Hand im Spiel hatten. Im Übrigen gibt es Spuren, die in eine ganz andere Richtung deuten: die Strahlen, denen wir uns jetzt zuwenden.
Die nächste Spur: Strahlen
Madame Curie war erschöpft. Nach zweiwöchiger Überfahrt legte die SS Olympic Mitte Mai 1921 im Hafen von New York an. Marie Curie wurde triumphal empfangen. Tausende säumten die Quais und schwenkten rote und weiße Rosen. Zwei Blaskapellen intonierten die Marseillaise. Aber sie zog es vor, unter Deck zu bleiben. Marie Curie war die populärste Wissenschaftlerin der damaligen Zeit, eine lebende Ikone, eine Art Popstar der Wissenschaften. Bis heute gehört sie zu den ganz wenigen Nobelpreisträgern, denen es gelang, zweimal ausgezeichnet zu werden: 1903 erhielt sie den Nobelpreis für Physik und 1911 den Nobelpreis für Chemie. Marie Curie mochte keinen Medienrummel. Unter anderen Umständen hätte sie bestimmt die Selbstdisziplin aufgebracht, ihre öffentlichen Termine wahrzunehmen, damit ihr die amerikanische Öffentlichkeit doch jenes Gramm Radium finanzierte, das sie für ihre Forschungspläne dringend brauchte, das aber fast unerschwinglich teuer war. Marie Meloney, die umtriebige Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Everybody’s, hatte heftig die Werbetrommel für Marie Curie gerührt. Die Reise durch die Vereinigten Staaten war eher eine Art Tournee als eine Forschungsreise. Ihr Terminkalender war übervoll, ein Galadiner jagte das nächste, und Madame Curie wurde herumgereicht wie ein Filmstar. Diese Agenda durchzuhalten fiel ihr sichtlich zunehmend schwer, denn hinter ihrer Müdigkeit steckte mehr, als sie sich eingestehen mochte.
Insbesondere der Nobelpreis für Physik, den sie für ihre Arbeiten über die Radioaktivität erhalten hatte, war das Ergebnis einer wahren
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