KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Auch außerhalb der Wissenschaft blies ihnen der Wind hart ins Gesicht, denn es ging schon damals um extrem viel Geld. Die Tabakindustrie fürchtete Milliardenverluste.
Um ihre Kritiker zu überzeugen,
planten Doll und Hill daher einen völlig neuen und sehr aufwendigen Typ von Studie. Statt sich Erkrankte anzuschauen und zu versuchen, in deren Vergangenheit Spuren zu finden, planten sie eine große Bevölkerungsgruppe (noch) Gesunder prospektiv , das heißt in die Zukunft hinein, zu beobachten. Man wollte klären, ob starke Raucher im geplanten Beobachtungszeitraum häufiger an Krebs erkranken als vergleichbare Nichtraucher. Auch hier steckt noch ein kleiner Fehlerteufel in dem Wörtchen vergleichbar. Weil die beiden Wissenschaftler bei dieser Feldstudie eine ungleich größere Gruppe von Menschen beobachten wollten, stieg ihre Chance, zufällige Fehler durch versteckte systematische Unterschiede zwischen den Gruppen allein aufgrund der großen Zahl der Beobachteten eliminieren zu können.
Außerdem wählten sie ihre Untersuchungsgruppe äußerst geschickt. Sie planten, alle in Großbritannien praktizierenden Ärzte zu beobachten. Ärzte waren nicht nur gut zugänglich, sie waren in Bezug auf ihre Lebensbedingungen auch eine vergleichsweise homogene Gruppe von Personen, was die Gefahr von systematischen Fehlern zusätzlich verringerte. Über 40
000 Ärzte nahmen an dieser Studie teil. Jede Krebserkrankung, jeder Todesfall und, soweitmöglich, jede Todesursache wurden registriert. Eine erste Zwischenauswertung wurde bereits 1954 nach zweieinhalb Jahren vorgenommen. Zu diesem Zeitpunkt waren von den 40
000 Ärzten bereits 36 Männer im Alter von über 35 Jahren an Lungenkrebs verstorben. Schon dieses erste Ergebnis war verblüffend: Alle Toten waren Raucher gewesen.
Kurze Zeit später wurde in den USA eine noch größere Untersuchung mit über 100
000 Freiwilligen aus allen Bevölkerungsschichten gestartet. Das ist eine der größten Studien, die in der Geschichte der Medizin je durchgeführt wurden. Diese Studie bestätigte die britischen Ergebnisse. Das Risiko der Raucher, an Lungenkrebs zu erkranken, ist ungleich höher als das der Nichtraucher. Die Unterschiede wurden immer deutlicher, je länger die beiden Gruppen beobachtet wurden. Die britische Studie läuft immer noch und umfasst inzwischen einen Nachbeobachtungszeitraum von über 50 Jahren. 14 Auch das ist rekordverdächtig, was medizinische Studien betrifft!
Die epidemiologischen Indizien gegen das Rauchen sind überwältigend. Inzwischen wurde die Beweiskette aber auch durch die komplementäre Beweisführung endgültig geschlossen. Der Amerikaner Ernst Wynder hatte aus vielen Packungen der Marken Lucky Strike Teerextrakte isoliert und sie auf die Haut von Versuchsmäusen aufgetragen. 15 Ziemlich rasch entwickelten sich bei vielen dieser Tiere in den exponierten Regionen bösartige Tumoren der Haut. Diese solide und sorgfältig durchgeführte Untersuchung sollte der erste Stein sein, der eine ganze Lawine von Experimenten ins Rollen brachte. Alle Experimente kamen zu demselben Ergebnis: Die Inhaltsstoffe des Tabakrauchs führen zur Entstehung bösartiger Tumoren.
Schon Mitte der fünfziger Jahre war die Beweislage gegen die Zigarette eigentlich erdrückend. Allerdings klaffte zwischen Wissen und Handeln immer noch eine riesige Lücke. Als der britische Gesundheitsminister Ian McLeod 1954 auf einer Pressekonferenz die Beweise für den Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Rauchen vorstellte, konsumierte er im Verlauf der Konferenz eine Zigarette nach der anderen.
Alle Gegenargumente, insbesondere von Seiten der Tabakindustrie und von Wissenschaftlern, deren Studien von der Tabakindustrie finanziert wurden, muten von diesem Zeitpunkt alles in allem nur noch wie Rückzugsgefechte an. Allerdings folgte erst im Jahr 1964 nach weiteren Zwischenauswertungen der beiden großen Studien und durch den anwachsenden Berg experimenteller Belege gegen das Rauchen der Abschlussbericht einer unabhängigen Expertenkommission,die 1962 ins Leben gerufen wurde. Darin wird unumwunden festgestellt: Das Rauchen vervielfacht wie kein anderer Einzelfaktor das Risiko, an Krebs zu erkranken. Das gilt insbesondere für Lungenkrebs, aber auch für viele weitere Arten von Tumoren. 16 Richard Doll veröffentlichte in den 1980er Jahren eine Arbeit mit dem Titel Causes of Cancer , in der er fast ein Drittel aller Krebserkrankungen den Folgen des Rauchens zuschrieb.
Weitere Kostenlose Bücher