KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Intermediärorbit – Wie kann man mit dem Krebs leben?
Nicht nur der Sommer endete am 25. August 2009
A n diesem Tag ging unsere Welt unter. In kaum fünf Sekunden stürzte sie in sich zusammen. So lange brauchte die Spule des Computertomographen, um Imogens Thorax von der Lungenspitze bis hinunter zu ihrem Zwerchfell abzutasten. Ich stand im Schaltraum vor dem Monitor, nur durch eine Glasscheibe von meiner Frau und den Röntgenstrahlen getrennt, und fühlte, wie mir eine eiskalte Faust langsam den Magen zusammendrückte.
Im Gegensatz zum 10. April 2008, dem Tag, als alles begann, schien dieses Mal die Sonne. Der kälteste Tag meines Lebens war ein schöner, warmer Spätsommertag. An diesem Mittwoch drängte sich ein unheimlicher Dritter endgültig und unwiderruflich zwischen uns, ergriff Besitz von unserem kleinen Leben. Diesen unheimlichen Fremden würden wir, das wussten wir beide, nicht wieder loswerden. Es galt, sich mit diesem kältesten aller Gäste einzurichten.
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Dieses Kapitel bricht mit dem Prinzip aller vorherigen. Die bisherige Form des Frage- und Antwortspiels hat ein Ende. Imogen und ihre Krankheit werden jetzt zu meinen Lehrmeistern. Es geht in diesem letzten Kapitel um nichts weniger als um die Frage, ob ein gutes Leben auch mit dem Krebs gelingen kann. Und es geht um das Sterben. Das sind Fragen, die mit den Werkzeugen der Wissenschaft nicht mehr bearbeitet werden können. Nicht mehr Heilung, nicht einmal Lebensverlängerung, sondern gelungenes Leben ist das Ziel – trotz der Krebserkrankung. Auch dazu kann und muss die Medizin ihren Beitrag leisten. Dieser Medizin unter geänderten Vorzeichen gehört der erste Teil dieses Kapitels.
Wichtiger ist aber, was im Kopf eines Menschen vor sich gehen kann, der weiß, dass er oder sie an einer chronischen, nicht mehr heilbaren Krebskrankheit leidet. Davon wird im zweiten Teil des Kapitels die Rede sein.
Der andere Blick: Palliativmedizin
Bisher haben wir vor allem über den Krebs geredet. Jetzt ändert sich der Blickwinkel. Wir reden über die Krebskranken. Wenn eine Krebserkrankung chronisch wird und nicht mehr heilbar ist, dann ist die Medizin noch nicht am Ende. Spätestens dann aber muss sie mehr sein als nur angewandte Biologie. Diese Art der Medizin, die Palliativmedizin, taugt nur etwas, wenn sie sich so weit wie möglich die Perspektive des Betroffenen zu eigen macht. Dieser Wechsel des Standpunkts ist ebenso notwendig wie radikal.
Die Notwendigkeit des Perspektivenwechsels
ist aber vielen Ärzten und auch manchen Patienten nicht wirklich bewusst. Auch in dieser Phase der Krankheit orientieren sich Ärzte noch zu oft an dem objektiv Erreichbaren. Sie streben letztendlich irrelevante Etappenziele an und verlieren dabei das eigentliche Ziel aus den Augen. Solange das ärztliche Handeln nicht die subjektive Qualität des Lebens mit dem Krebs verbessert, produziert es Pyrrhussiege. Im schlimmsten Fall raubt die Therapie dem Kranken wertvolle Lebenszeit, die er besser außerhalb der oft wenig freundlichen Gemäuer unserer Krankenhäuser verbracht hätte.
Aber nicht nur der Arzt muss spätestens jetzt jede patriarchalische Attitüde ablegen. Auch der Kranke muss begreifen, dass er selbst und niemand sonst der Herr des Verfahrens ist. Er muss entscheiden und seine Prioritäten setzen, die sich am Prinzip subjektiv empfundener Lebensqualität orientieren. Gute Palliativmedizin kann die Umwertung vieler der Werte des üblichen Medizinbetriebs notwendig machen. Wenn gelungenes Leben zum Maßstab wird, kann es vernünftig sein, die professionell geäußerten Bedenken des behandelnden Arztes zur geplanten Bergtour in den Wind zu schlagen und einfach aufzubrechen. Es kann vernünftig sein, sich Ratschläge aus dem weiten Feld der Komplementärmedizin zu holen, wenn es dem subjektiven Wohlbefinden dienlich ist. Und es kann vernünftig sein, Dinge zu tun, die nicht in das Koordinatensystem eines Lebens vor dem Krebs gepasst hätten. Im glücklichen Fall erweitert sich die Heilkunde zur Lebenskunde.
Gäbe es eine Skala der Therapieformen
des Krebses, so fände sich am einen Ende die Hochdosis-Chemotherapie akuter Leukämien und am anderen Ende die Palliativmedizin. Ihre Ziele und ihre Methoden könnten kaum gegensätzlicher sein. Die Hochdosis-Chemotherapie ist ein Alles-oder-Nichts-Spiel mit hohem Einsatz und hohem Risiko, aber mit der Aussicht auf den Jackpot. 1 Die Zeit während der Behandlung ist weitgehend geraubte Lebenszeit, doch am
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