KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
dieselben ungewöhnlichen Schmerzen im Unterkiefer. Eine Gruppe betroffener Frauen traf sich schließlich in der Praxis eines Zahnarztes. Rasch fiel auf, dass sie alle in der Fertigung von Zifferblättern bei der US Radium Corporation arbeiteten. Alle betroffenen Frauen waren Zifferblattmalerinnen. Sie trugen eine Leuchtfarbe mit dem schönen Namen Glow in the dark auf die Zifferblätter auf, damit die Uhren auch im Dunkeln abgelesen werden konnten. Viele Frauen spitzten die feinen Pinsel immer wieder mit den Lippen an. Die intensiv leuchtende Farbe verleitete einige Frau auch dazu, Glow in the dark als fluoreszierenden Nagellack oder Lidschatten aufzutragen. Die Farbe leuchtete, weil sie Radium enthielt. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass ein winziger Anteil Radium von 1:30
000 so bedenkliche, ja verheerende gesundheitliche Folgen haben könnte.
Die zunehmende Häufung schwerer und ungewöhnlicher Krankheitsfälle bei den Arbeiterinnen der Uhrenfabrik hatte jedoch juristische Folgen; 28 einige Frauen zogen vor Gericht, und die Kranken, die noch lebten, erhielten nach einem langen Rechtsstreit 1928 in einem Vergleich eine einmalige Summe von etwa 10
000 US-Dollar plus weitere jährliche Entschädigungen von einigen hundert Dollar zugesprochen. 29
Die direkten, nicht krebsbedingten Strahlenschäden des Kiefers sind ein eindeutiger Hinweis auf die extrem hohen kumulativen Dosen, denen die Radiumarbeiterinnen ausgesetzt waren. Auch die Krebsfälle wurden daher im Kontext dieser sehr hohen Strahlenbelastung wahrgenommen. Kaum jemand argwöhnte jedoch, dass bereits deutlich geringere Dosen, die keinerlei direkte Strahlenschäden hervorrufen, ähnliche Risiken bergen könnten.
Im grellen Licht der spektakulären Prozesse gegen die US Radium Corporation im Lauf der zwanziger und dreißiger Jahre fiel auch eine andere Koinzidenz plötzlich auf: Bei Radiologen der ersten Stunde wie auch bei den Arbeitern, die mit den Röntgenröhren umgingen, wurde »überzufällig häufig« Haut- und Blutkrebs diagnostiziert. 30
Langsam begann die Strahlung
einigen kritischeren Wissenschaftlern unheimlich zu werden. Trotzdem blieb der Umgang mit Röntgenstrahlen noch lange Zeit überraschend sorglos. Ein furchtbares Ereignis ganz anderer Art hätte die Menschen eines Besseren belehren können. »Ich bin der Tod, der alles raubt, Erschütterer der Welten.« Sri Krishna, der Erhabene, Herr über das Schicksal der Sterblichen, hatte so gesprochen. J. Robert Oppenheimer, der Leiter des Manhattan-Project, schien zu ahnen, was er angerichtet hatte, als ihm diese Zeilen aus der Bhagavadgita bei einem Test der Atombombe im Zweiten Weltkrieg durch den Kopf schossen. Der Feuerball schien nicht aufzuhören zu wachsen, als wollte er Himmel und Erde in sich verschlingen.
Schon die erste Zündung einer Atombombe in der Wüste bei Alamogordo hatte alle Erwartungen übertroffen. Die Kernphysik hatte ihre Unschuld verloren. Nur wenigen Anwesenden war in diesem Moment bewusst, dass diese bis dahin unheimlichste aller Waffen wenige Wochen danach tatsächlich eingesetzt werden sollte. 31
Am 6. August 1945 um 8.15 Uhr und 17 Sekunden Ortszeit klinkte der US-Bomber Enola Gay die Uranbombe »Little Boy« in 9450 Metern Höhe über der japanischen Großstadt Hiroshima aus. Ihre Sprengkraft entsprach etwa 12
500 Tonnen des konventionellen Sprengstoffs TNT. Um 8.16 Uhr und 2 Sekunden detonierte die Bombe in 580 Metern Höhe über der Innenstadt. Durch den Atombombenabwurf auf Hiroshima starben von etwa 310
000 Einwohnern 90
000 bis 140
000 durch die unmittelbaren Explosionswirkungen wie Druckwelle, Hitze und durch die Trümmer einstürzender Gebäude. Genauere Angaben über die Anzahl der Toten sind nicht möglich, weil keine nachprüfbaren Informationen darüber vorliegen, wie viel militärisches Personal und wie viele Zwangsarbeiter sich zum Zeitpunkt des Angriffs in der Stadt aufgehalten hatten. In den Folgewochen starben nochmals mehrere zehntausend Menschen an einem bisher unbekannten und geheimnisvollen Phänomen – der Strahlenkrankheit. 32
Nur drei Tage später ereignete sich über der Hafenstadt Nagasaki ein ähnliches Inferno. Am 9. August 1945 explodierte dort die Plutoniumbombe »FatMan« mit einer Sprengkraft, die 22
000 Tonnen TNT entsprach. Auch diesem Angriff fielen über 70
000 Menschen zum Opfer. Nimmt man die Einwohnerzahl von Hiroshima und Nagasaki zusammen, wurden fast 700
000 Menschen Opfer
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