KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Lebensjahr zu beobachten sind.
Im Gegensatz zu diesem exotischen Tumor des Auges
gehört der Darmkrebs zu den häufigsten Krebsformen. Bald werden mehr als 500
000 Menschen jedes Jahr in Deutschland an Krebs erkranken. Bei mehr als jeder zehnten Erkrankunghandelt es sich um Darmkrebs. Damit wird fast jeder 30. Mitteleuropäer im Lauf seines Lebens zum Opfer dieses Tumors. Fast immer trifft es die Menschen erst in ihrer zweiten Lebenshälfte. Allerdings kennen wir seit einigen Jahrzehnten Varianten des Darmkrebses, die sich nicht an diese Regel zu halten und auch sonst ihre Eigenheiten zu haben scheinen. Manchmal erkranken jüngere Menschen, selbst Jugendliche am Darmkrebs. Beim Blick mit dem Endoskop in den Darm dieser Erkrankten 66 zeigt sich oft nicht nur der bösartige Tumor selbst, sondern es fallen auch hunderte, manchmal tausende Krebsvorstufen im Form von kleinen Polypen, sogenannten Adenomen, auf.
Forscht man in der Familiengeschichte dieser Patienten nach, stellt man fest, dass sehr oft Verwandte und Vorfahren in gleicher Weise betroffen waren. Beim Blick auf die Stammbäume wird deutlich, dass sich diese Erkrankung an Mendels Regeln zu halten scheint und das typische Muster eines autosomal-dominanten Erbgangs aufweist.
Diese spezielle Variante des Darmkrebses wird deshalb auch familiäre adenomatöse Polypose (FAP) genannt. Die familiäre adenomatöse Polypose verursacht etwa 1 Prozent aller Darmkrebs-Erkrankungen. Dieses eine Prozent verhält sich ohne Zweifel wie eine Erbkrankheit mit klassisch dominantem Mendelschen Erbgang.
Mittlerweile sind über 50 weitere erbliche Syndrome bekannt, die zu erhöhtem Krebsrisiko oder manchmal auch fast zwangsläufig zu Krebserkrankungen führen und die sich mehr oder weniger an die Mendelschen Regeln zu halten scheinen. 67
Selbst wenn Merkmale nach den Mendelschen Regeln vererbt werden, entspricht die Häufigkeitsverteilung der unterschiedlichen Phänotypen in den Folgegenerationen nicht immer den Voraussagen der Theorie. Die Wirklichkeit ist komplizierter als Mendels Gedankengebäude. So können Allele trotz Dominanz unvollständig »penetrant« sein. Das bedeutet, dass nicht 100 Prozent aller Träger des jeweiligen Allels den entsprechenden Phänotyp aufweisen, obwohl es dominant vererbt wird. Dies ist nur eines der Phänomene, die die Realität komplizierter gestalten, als von Mendels Theorie vorhergesagt. Trotz der genannten Beispiele und der besagten 50 Krebssyndrome sind Krebserkrankungen, die den Mendelschen Regeln gehorchen, eine recht seltene Ausnahme.
Allerdings werden viele Eigenschaften vererbt oder weisen zumindest eine erbliche Komponente auf, ohne dass sie den Mendelschen Vererbungsregelngehorchen. Das liegt unter anderem daran, dass der Begriff Merkmal im Grunde eine vollkommen willkürliche Kategorie ist. Das Merkmal entsteht im Auge des Betrachters. Wir definieren Eigenschaften, die uns interessieren, als Merkmale. Damit wird klar, dass viele Merkmale nicht das Produkt eines einzelnen Mendelschen Elements oder – in moderner Diktion – eines Gens sein können. Viele Merkmale beruhen auf spezifischen Konstellationen mehrerer Gene, oder sie sind wie ein Orchesterstück, das aus dem Zusammenspiel vielfältiger Umweltfaktoren vor einem komplexen genetischen Hintergrundgeräusch entsteht.
Neben den Erbkrankheiten im engeren Sinn,
wie sie die OMIM-Datenbank auflistet, gibt es viele Erkrankungen, die eine erbliche Komponente haben. Nicht die Erkrankung selbst, sondern nur die Disposition zur Erkrankung oder umgekehrt die relative Resistenz gegen eine Krankheit wird vererbt. Es handelt sich meistens um Erbgänge, bei denen viele Mendelsche Elemente (Gene) zusammenwirken. Der Ausbruch der Erkrankung ist dann das Resultat der Interaktion von genetischer Ausstattung und den individuellen Lebensumständen.
Es ist im konkreten Fall alles andere als trivial herauszufinden, wie hoch die relative Bedeutung der erblichen Komponente ist. Die Untersuchung von Familienstammbäumen kann zwar Hinweise auf erhöhte Erkrankungsrisiken in bestimmten Familien liefern, sie lässt aber keine verlässliche Aussage über den relativen Beitrag der einzelnen Komponenten zu.
Glücklicherweise hat die Natur selbst Experimente gemacht,
die uns helfen, der Lösung dieses Problems ein Stückchen näher zu kommen. In knapp einem von 100 Fällen kommen Kinder als Zwillinge zur Welt. Zwillinge entstehen entweder durch gleichzeitige Befruchtung zweier unterschiedlicher
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