KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Unterscheidung zwischen Krebserkrankungen und harmloseren Diagnosen. Die meisten akuten Erkrankungen, Entzündungen, Infektionen oder Verletzungen heilen in wenigen Wochen aus oder zeigen im Verlauf eines Monats zumindest eine deutliche Tendenz zur Besserung. Das gilt oft auch, wenn die Krankheit gar nicht oderinadäquat behandelt wurde. Krebs hingegen verursacht selten Symptome, die spontan wieder verschwinden oder zyklisch auftreten. Die Symptome einer Krebserkrankung neigen in der Regel dazu, sich schrittweise oder kontinuierlich zu verschlimmern, wenn nichts dagegen unternommen wird.
Die zweite Lektion heißt: Wer mit einem Problem nicht weiterkommt, soll sich eine zweite Meinung einholen. Wenn sich nach vier Wochen die Beschwerden nicht gebessert, sondern womöglich sogar weiter verschlechtert haben, dann ist es für Arzt und Patient Zeit, hellhörig zu werden. Der Arzt sollte spätestens jetzt seine ursprüngliche Arbeitshypothese kritisch überprüfen. Er muss überlegen, ob er tiefer in die Kiste seines diagnostischen Instrumentariums greifen muss oder ob er andere Fachdisziplinen zu Rate ziehen sollte. Oft sind es kleine Details, die von weniger Erfahrenen übersehen werden, den Spezialisten aber stutzig machen und auf die richtige Fährte lenken. In unserem Fall hätte vielleicht die untypische Lage am Unterlid den erfahrenen Augenarzt schon früher an der Diagnose »Gerstenkorn« zweifeln lassen. Das gilt natürlich auch für den Patienten. Bei nicht-trivialen Problemen ist es immer legitim, sich eine zweite Meinung bei einem anderen Facharzt oder einem entsprechend spezialisierten Zentrum einzuholen.
Aber jetzt zu einer anderen Geschichte:
Der furchtbare Geruch von faulendem Fleisch erfüllte den Raum, als sie zur Tür hereintrat. Im Untersuchungszimmer der Ambulanz stand eine gepflegte Dame in den Fünfzigern, frisch geduscht, sorgfältig geschminkt und in ein teures Kostüm gekleidet. Die Quelle des Geruchs wurde erst offensichtlich, als sie den Oberkörper freimachte. Wo früher die rechte Brust gewesen sein musste, war jetzt ein tiefer Krater zerfallenden, teils schwärzlich verfärbten, teils leicht blutenden Fleisches zu sehen, umgeben von dicken und harten, blau geäderten Knoten. Der Krater maß im Durchmesser fast 10 Zentimeter und musste sich über viele Monate entwickelt haben. Ich war einigermaßen schockiert. Auch jedem Laien sollte klar sein, dass hinter einer solchen, scheinbar spontan entstandenen Wunde eine schwere Erkrankung stehen muss. Hinzu kam, dass der rechte Arm der Frau stark geschwollen war. Die Frau litt offensichtlich an einer bereits sehr weit fortgeschrittenen Brustkrebserkrankung. Erst die Schwellung des Arms, die zwei Wochen zuvor aufgetreten war, hatte sie zum Arztbesuch motivieren können. Die Schwellung war die Folge von Absiedlungen des Tumors in die Lymphknoten der Achselhöhle, die den Abfluss der Lymphe aus dem Arm behinderten.
Mir war völlig rätselhaft, warum die Betroffene so spät reagiert hatte. Meine Verwunderung wuchs, als ich erfuhr, dass es sich bei der Frau um eine Zahnärztin handelte. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Frau ihren Beruf zum absoluten Lebensmittelpunkt gemacht hatte. Sie führte eine große Praxis, war dabei durchaus erfolgreich und arbeitete viel und gern. Der Weg zum beruflichen Erfolg war aber gepflastert mit Kompromissen in anderen Lebensbereichen. Eine eigene Familie oder einen dauerhaften Lebenspartner hatte sie nie gehabt. Tief im Innern war sie von der Furcht vor Krebs beseelt. Sowohl ihre Mutter als auch die Großmutter waren dem Brustkrebs zum Opfer gefallen. Ihre Strategie, mit dieser Furcht zu leben, war eine massive Form der Verdrängung, die, wie ihr Fall allzu deutlich zeigte, längst zu einer Bewusstseinsspaltung geführt hatte. Ähnlich wie eine Magersüchtige, die selbst dann, wenn ihr im Spiegel ihr zum Skelett abgemagerter Körper demonstriert wird, überall noch imaginäre Speckröllchen sieht, muss diese Frau die Veränderungen an ihrem Körper sogar dann noch ignoriert haben, als sich der Krebs bereits durch ihre Haut gefressen hatte.
Aus dieser ebenso tragischen
wie grotesken Geschichte lassen sich zwei weitere Lehren ziehen. Die dritte Lektion lautet: Normale Wunden heilen von selbst. Tun sie das nicht, muss ein gravierenderes Problem dahinter stecken. Dieses Problem muss nicht immer eine Krebserkrankung sein. Auch bei Diabetikern, Menschen mit Defekten des Immunsystems, bei Wundinfektionen mit
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