KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
was ich erreichen möchte. Nichts ist schlimmer, als ständig das Gefühl zu haben, man lebe unter einem Damoklesschwert. Zudem hat jemand, der zehnmal auf Fehlalarme hereingefallen ist, die fatale Neigung, sich im Bett herumzudrehen und weiterzuschlafen, wenn beim elften Mal der Dachstuhl tatsächlich brennt.
Das Problem besteht darin, die Spreu vom Weizen zu trennen. Können wir Regeln aufstellen, welche Beschwerden ernst genommen werden sollten und welche nicht? Zunächst einmal die schlechte Nachricht: Keine noch so gute Regel wird Arzt oder Patient mit hundertprozentiger Sicherheit vor einer Fehleinschätzung bewahren. Im seltenen Einzelfall kann sich hinter jeder scheinbaren Harmlosigkeit eine Krebserkrankung verbergen. Umgekehrt entpuppen sich viele zunächst bedrohlich erscheinende Konstellationen von Symptomen und Risikofaktoren in der Mehrzahl der Fälle als Schall und Rauch.
Wir können aber zumindest Regeln für Konstellationen von Symptomen aufstellen, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten und diegenauerer Untersuchung bedürfen. Wichtig ist dabei den Kontext zu beachten, in dem die Beschwerden auftreten. Oft handelt es sich bei echten Warnsignalen nicht um ein isoliertes Symptom, sondern um eine charakteristische Konstellation von Beschwerden mit einer spezifischen Historie vor dem Hintergrund der individuellen Biographie des Betroffenen.
Eine der spannendsten Veranstaltungen
meines Medizinstudiums war die Vorlesung über Differentialdiagnose. Das ist die Kunst, aus einer gegebenen Kombination von Symptomen und der individuellen Historie eines Patienten eine tragfähige Hypothese zu entwickeln, welche Erkrankung die Wurzel seiner Probleme sein könnte. Dieser Aspekt der ärztlichen Tätigkeit hat etwas Detektivisches. Die Kunst der Differentialdiagnose verlangt Intuition, Kombinationsgabe, ein Gespür für Plausibilitäten und setzt natürlich die Kenntnis der Eigenheiten vieler Krankheitsbilder voraus.
Selbst bei strahlendem Sommerwetter war die Vorlesung Differentialdiagnostik immer ausgebucht. Der Dozent beherrschte sein Metier, und er gab uns Studenten oft genug Gelegenheit, selbst einmal »Detektiv« zu spielen. Er liebte Aphorismen und Faustregeln, wie zum Beispiel: »Was häufig ist, ist häufig, und was selten ist, ist selten«, 1 ein Merksatz, den ich bereits erwähnt habe. Auf den zweiten Blick ist diese Regel nicht so trivial, wie sie klingt. Häufigkeit ist in der Medizin ein ausgesprochen relativer Begriff. Was häufig ist und was nicht, kann in Abhängigkeit von den Umständen stark variieren. Räkelt sich am heimischen Spitzberg hinter unserem Haus ein beinloses, schuppiges Reptil in der Sonne, so handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Ringelnatter. Kriecht ein vergleichbares Geschöpf über meine Schuhe, wenn ich durch das australische Outback wandere, könnte es angebracht sein, sich Sorgen zu machen.
Die relativen Häufigkeiten von Krankheiten verändern sich mit dem betrachteten Kollektiv. In diese individualisierte Perspektive gehen Faktoren wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Beruf, aber auch Vor- und Begleiterkrankungen, kurz die ganze Lebensgeschichte eines Patienten mit ein. Unregelmäßige Fieberschübe in Kombination mit dunklem Urin mögen bei einem Biologen, der gerade sechs Monate in Madagaskar zugebracht hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Malaria schließen lassen. Bei einem sechsjährigen Kind, das zeit seines Lebens den Kreis Tübingen nicht verlassen hat, sollte der behandelnde Arzt zunächst ganz andere Ursachen favorisieren.
Dieser erste Teil des Kapitels soll ein wenig Ordnung ins Chaos der Erscheinungsformen des Krebses bringen. Krebs ist keine seltene Krankheit. In Mitteleuropa erkrankt fast jeder Dritte im Laufe seines Lebens an Krebs. Trotzdem sind viele andere Erkrankungen ungleich häufiger. Hinter den meisten Symptomen und Beschwerden stehen daher harmlose Erklärungen.
Abbildung 9: Altersspezifische Krebserkrankungsraten in Deutschland pro 100
000 Einwohner; getrennt nach Geschlecht. 2
Krebs ist typischerweise eine Erkrankung des älteren Menschen. Alle häufigen Krebsformen, insbesondere die Karzinome, treten selten vor dem 50. und fast nie vor dem 40. Lebensjahr auf.
Werfen wir jetzt einen Blick ins Sprechzimmer eines Onkologen. Ich möchteSie an dieser Stelle mit Patienten 3 bekannt machen, deren Geschichte gleichzeitig typisch und ungewöhnlich ist. Ich habe diese Fälle ausgewählt, weil sie
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