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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Bleif
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prototypisch sind. Sie repräsentieren jeweils vier verschiedene Kategorien möglicher Krebserkrankungen.

Manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht
    Auch wenn der Krebs durch die Vordertür kommt, kann er übersehen oder fehlgedeutet werden. Bei jedem der folgenden Patienten war eine sicht- oder tastbare Schwellung das erste Anzeichen einer Krebserkrankung. Trotzdem wurden die Zeichen in jedem der Fälle aus ganz verschiedenen, aber oft recht typischen und nachvollziehbaren Gründen zunächst einmal fehlgedeutet. Im Sommer des Jahres 2010 saß ich zusammen mit einigen Kollegen in der wöchentlichen Tumorkonferenz des Tübinger »Zentrums für Tumoren im Kopfund Halsbereich«. Die Konferenz war fast zu Ende, als ein Mann, kräftig gebaut und kaum älter als 40 Jahre, mit einer Augenklappe den Raum betrat. Er stammte von der Schwäbischen Alb und arbeitete dort in einem kleinen Dorf als Handwerker. Schon während er sich setzte, nahm er den Verband vom Auge. In diesem Moment fror unser Gespräch ein. Uns gähnte eine vollkommen leere rechte Augenhöhle an.
    Zehn Tage zuvor hatten ein Team von Chirurgen aus der Hals-Nasen-Ohren- und der Augenklinik das linke Auge des Mannes entfernen müssen. Ein bösartiger Tumor, ein sogenanntes Plattenepithelkarzinom, hatte sich, vom Lid ausgehend, nasenseitig bis tief in die Augenhöhle hinein gefressen.
    So eine Krebserkrankung
entsteht nicht über Nacht. Schon vor Monaten hatte der Mann eine reiskorngroße Rötung und Schwellung am Unterlid bemerkt. Als die Schwellung nach einigen Tagen nicht besser wurde, ging er zu seinem Hausarzt. Der deutete die Veränderung als ein Gerstenkorn und leitete eine entsprechende Therapie mit einer entzündungshemmenden Salbe ein. Solche Gerstenkörner sind häufige Erkrankungen des Lidapparats. Es handelt sich dabei um harmlose, wenn auch manchmal unangenehme Schwellungen am Augenlid. Die Zeit ging ins Land, und die Schwellung wurde nicht besser – im Gegenteil. Daraufhin beschloss der Mann, einen Augenarzt aufzusuchen. Auch dieser schätzte die Veränderung zunächst als harmlos ein. Er vertröstete den Patienten mit der Aussicht auf baldige Besserung. Die Schwellung amAugenlid wuchs indessen langsam weiter, und sie veränderte sich. Es entwickelte sich ein festes, mit dem umgebenden Gewebe und der Haut verwachsenes Paket. Unzufrieden mit dem Gang der Dinge suchte der Patient einen weiteren Augenarzt auf. Diesem Kollegen war die Situation nicht mehr geheuer. Er veranlasste eine Kernspintomographie. Die Aufnahmen zeigten, dass die bananenförmige Schwellung des Unterlids nur die Spitze eines Eisbergs war. Der Prozess war längst nicht mehr auf das Lid begrenzt, sondern hatte sich über drei Zentimeter nach hinten in die Augenhöhle hinein ausgebreitet. Damit war die Hypothese vom Gerstenkorn endgültig vom Tisch. Eine Gewebeprobe bestätigte schließlich, dass es sich um einen bösartigen Tumor handelte.
    Was ist typisch an dieser Geschichte?
Es ist schwer, den Wolfsbarsch zu finden, wenn er mit vielen tausend Sardinen in einem riesigen Netz zappelt. Bei der Krebserkrankung des Augenlids handelt es sich um ein extrem seltenes Krankheitsbild – eine Krebserkrankung unter tausenden Gerstenkörnern. Erschwerend kam hinzu, dass es keine weiteren Hinweise gab, die den Verdacht in eine bestimmte Richtung gelenkt hätten. Der Mann hatte sonst keinerlei Beschwerden oder typische Risikofaktoren, die aus seiner Vorgeschichte herauszulesen gewesen wären und den Arzt auf die richtige Spur gesetzt hätten.
    Verwechslungen sind außerdem vorprogrammiert, wenn kein erfahrener Küstenfischer, sondern ein Landei den Barsch unter tausenden Sardinen herausfischen soll. Dieses Landei war in diesem Fall der Hausarzt. Ich meine das keineswegs despektierlich. Niemand ist in der Lage, das ganze weite Feld der Medizin im Detail noch zu überblicken oder gar zu beherrschen. Jeder noch so gute Arzt ist auf vielen Gebieten ein Landei. Mediziner können das am besten, was sie häufig machen, und sie kennen sich mit den Erkrankungen aus, die sie oft sehen und behandeln. Die Spezialisierung auf einem Fachgebiet geht zwangsläufig mit dem Verlust an Wissen in der Breite einher und umgekehrt.
    Trotzdem war die erschreckend späte Diagnose dieser Krebserkrankung mehr als nur Pech. Wir können aus dieser Geschichte auch ein paar Lehren ziehen. Die erste Lektion lautet: Die Zeit ist ein wichtiges Instrument der Diagnostik. Das gilt auch und vor allem bei der

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