Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Dutzenden Fällen, und es gibt unzählige mehr, in denen sie entweder ein Kind im Mutterleib getötet haben, weil die Mutter angeblich nicht gebären konnte, obwohl die Mutter später sehr wohl geboren hat, oder unter dem Anschein irgendwelcher Operationen die Mutter selbst umgebracht haben. Niemand zählt diese Morde, so wie auch die Morde der Inquisition nicht gezählt wurden, weil man glaubte, sie geschähen zum Wohl der Menschheit. Zahllose Verbrechen begehen die Ärzte. Doch all diese Verbrechen sind nichts im Vergleich zu dem moralischen Niedergang, den sie mit ihrem Materialismus über die Welt bringen, besonders über die Frauen. Ganz zu schweigen davon, dass die Menschheit, wenn es nach den Ärzten ginge, wegen der allgegenwärtigen Ansteckungsgefahr nicht nach Einheit, sondern nach Zersplitterung streben müsste: Nach ihrer Theorie müsste jeder für sich irgendwo dasitzen und dürfte die Karbolsäurespritze 20 keine Minute aus dem Mund nehmen (allerdings hat man inzwischen
entdeckt, dass auch Karbol nichts hilft). Aber selbst das ist noch nicht das Schlimmste. Das größte Gift liegt darin, wie sie die Menschen verderben, insbesondere die Frauen.
Keiner kann heute mehr zu sich selbst oder zu einem anderen sagen, dass er nicht richtig lebt, dass er sich bessern muss. Wenn einer nicht richtig lebt, dann liegt das an einer Störung der Nervenfunktionen oder etwas Ähnlichem. Folglich muss man einen Arzt konsultieren, der verschreibt einem für fünfunddreißig Kopeken Medizin aus der Apotheke, und diese Medizin nimmt man ein. Wenn es einem danach noch schlechter geht, folgt die nächste Medizin, der nächste Arzt. Eine feine Sache!
Aber ich will auf etwas anderes hinaus. Ich hatte davon gesprochen, dass sie die Kinder sehr gut selbst stillen konnte und dass dieses Austragen und Stillen der Kinder das Einzige war, was mich vor der Qual der Eifersucht bewahrte. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre alles schon früher passiert. Die Kinder waren meine und ihre Rettung. In acht Jahren hat sie fünf Kinder zur Welt gebracht. Und sie hat alle selbst gestillt. »
«Und wo sind sie jetzt, Ihre Kinder?», fragte ich.
«Meine Kinder?», fragte er erschrocken zurück.
«Verzeihen Sie, vielleicht schmerzt Sie die Erinnerung? »
«Nein, das macht nichts. Die Kinder leben bei meiner Schwägerin und ihrem Bruder. Ich durfte sie nicht zu mir nehmen. Ich habe ihnen mein Vermögen überlassen, aber die Kinder habe ich nicht bekommen. Ich bin schließlich so etwas wie ein Verrückter. Eben jetzt bin ich auf dem Rückweg von ihnen. Ich habe sie gesehen, aber geben wird man sie mir nicht. Sonst erziehe ich sie womöglich so, dass sie anders werden als ihre Eltern. Und sie sollen nun einmal genauso werden. Nun, da kann man nichts machen. Es ist nur verständlich, dass man sie mir nicht geben, mir nicht anvertrauen will. Ich weiß auch gar nicht, ob ich imstande wäre, sie zu erziehen. Ich glaube, nein. Ich bin ein Wrack, ein Krüppel. Eines aber habe ich für mich: das Wissen. Ja, das ist wahr, ich weiß etwas, was die meisten nicht so bald erfahren werden. Meine Kinder leben und wachsen zu ebensolchen Wilden heran wie alle in ihrer Umgebung. Dreimal habe ich sie gesehen. Es gibt nichts, was ich für sie tun kann. Nichts. Ich fahre nach Hause, in den Süden. Dort habe ich ein kleines Haus und einen Garten.
Ja, was ich weiß, werden die Menschen nicht so bald erfahren. Wie viel Eisen und welche anderen Metalle es auf der Sonne und den Sternen gibt, das wird man bald herausfinden; aber wenn es darum geht, unser Schweineleben zu entlarven – das fällt uns schwer, entsetzlich schwer … Sie hören wenigstens zu, allein dafür bin ich schon dankbar.»
XVI
«Sie haben von den Kindern gesprochen. Auch darüber sind ja furchtbar viele Lügen im Umlauf, über die Kinder. Kinder sind ein Segen Gottes, Kinder sind eine Freude. Lauter Lügen. Das war einmal, aber heute kann davon keine Rede mehr sein. Kinder sind eine Qual, weiter nichts: So empfinden es die meisten Mütter, und manchmal sagen sie es versehentlich auch so. Fragen Sie die Mütter in unseren wohlhabenden Kreisen, und die meisten werden Ihnen sagen, dass sie vor lauter Angst, ihre Kinder könnten krank werden und sterben, lieber gar keine bekommen wollen, und wenn sie bereits Kinder geboren haben, wollen sie sie lieber nicht stillen, um sich nicht zu sehr an sie zu binden und dann
zu leiden. Der Genuss, den das Kind ihnen mit seinem reizenden Anblick bereitet, mit
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