Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
zwang mich irgendeine Macht, ihm gegen meinen Willen
nicht nur höflich, sondern geradezu herzlich zu begegnen. Ob ich das für meine Frau oder für ihn tat, um zu zeigen, dass ich keine Angst vor ihm hatte, oder für mich, um mich selbst zu täuschen – ich weiß es nicht, aber von Anfang an konnte ich mit ihm nicht ungezwungen umgehen. Um dem Verlangen zu widerstehen, ihn auf der Stelle umzubringen, musste ich besonders freundlich zu ihm sein. Beim Souper schenkte ich ihm teuren Wein ein, bewunderte sein Spiel, lächelte ihm betont herzlich zu und lud ihn ein, am nächsten Sonntag zum Essen zu kommen und noch einmal mit meiner Frau zu spielen. Ich sagte, ich wolle einige meiner musikliebenden Bekannten einladen, damit auch sie ihn hören könnten. Und so kam es schließlich auch.»
Posdnyschew war jetzt sehr aufgewühlt, er änderte die Haltung und machte wieder sein eigentümliches Geräusch.
«Es war seltsam, wie die Gegenwart dieses Menschen auf mich wirkte», begann er wieder, offensichtlich um Fassung bemüht.«Zwei oder drei Tage später kam ich von einer Ausstellung nach Hause, trat ins Vorzimmer und spürte plötzlich eine Schwere im Herzen, als hätte sich ein Stein darauf gewälzt, aber ich kam nicht darauf, was es war. Ich hatte beim Durchqueren des
Vorzimmers etwas bemerkt, was mich an ihn erinnerte. Erst in meinem Arbeitszimmer wurde mir klar, was es war; ich ging zurück ins Vorzimmer, um mich zu vergewissern. Ja, ich hatte mich nicht getäuscht: Da hing sein Mantel. Wissen Sie, so ein modischer Mantel. (Alles, was ihn betraf, nahm ich unwillkürlich außerordentlich aufmerksam wahr.) Ich frage also nach, und so ist es, Truchatschewski ist da. Statt das Musikzimmer vom Salon aus zu betreten, nehme ich den Weg über den Unterrichtsraum. Lisa, meine Tochter, liest gerade ein Buch, die Kinderfrau sitzt mit der Kleinen am Tisch und spielt mit irgendeinem Deckel. Die Tür zum Musikzimmer ist geschlossen, ich höre gleichmäßige Arpeggien und seine und ihre Stimme. Ich lausche, aber ich verstehe nicht, was sie sagen. Offensichtlich dienen die Klavierklänge eben dazu, die Worte der beiden zu übertönen, vielleicht auch ihre Küsse. Mein Gott, was da in mir losbrach! Mir graut vor mir, wenn ich daran denke, was für ein Tier damals in mir hauste. Mein Herz krampfte sich plötzlich zusammen, blieb stehen und fing dann wild zu hämmern an. Wie immer in Momenten der Wut empfand ich vor allem Mitleid mit mir selbst. ‹Vor den Kindern, vor der Kinderfrau!›, dachte ich. Ich muss zum Fürchten ausgesehen
haben, denn auch Lisa warf mir einen seltsamen Blick zu. ‹Was tun?›, fragte ich mich. ‹Hineingehen? Unmöglich, ich würde weiß Gott was tun.› Aber wieder weggehen konnte ich auch nicht. Die Kinderfrau sah mich an, als würde sie meine Lage begreifen. ‹Ich muss hinein, es geht nicht anders›, sagte ich mir und öffnete schnell die Tür. Er saß am Klavier und schlug mit seinen großen, weißen, nach oben gebogenen Fingern die Arpeggien an. Sie stand vor einem aufgeschlagenen Notenheft in der Biegung des Flügels. Sie bemerkte mich als Erste und schaute mich an. Ob sie ihren Schreck lediglich verbarg oder wirklich nicht erschrak, jedenfalls zuckte sie nicht zusammen und rührte sich nicht, sie wurde nur rot, und auch das erst später.
‹Wie gut, dass du kommst; wir wissen noch nicht, was wir am Sonntag spielen sollen›, sagte sie in einem Ton, in dem sie nie mit mir gesprochen hätte, wenn wir allein gewesen wären. Dieser Ton und die Tatsache, dass sie von sich und ihm als ‹wir› redete, empörten mich. Ich begrüßte ihn schweigend.
Er gab mir die Hand und begann sogleich, mir mit einem, wie mir schien, geradezu spöttischen Lächeln zu erklären, er habe Noten für Sonntag mitgebracht, und nun seien sie sich nicht einig,
was sie spielen sollten: etwas Schwereres, Klassisches, nämlich eine Beethoven-Sonate, oder kleinere Stücke? Alles klang so natürlich und ungezwungen, dass man nichts daran aussetzen konnte; gleichzeitig war ich sicher, dass das alles nicht wahr war, dass sie sich abgesprochen hatten, wie sie mich täuschen wollten.
Zu den quälendsten Angelegenheiten für einen Eifersüchtigen (und eifersüchtig sind in unserem Gesellschaftsleben alle) gehören bestimmte Konventionen der großen Welt, die eine ganz unmittelbare, gefährliche Nähe zwischen Mann und Frau zulassen. Wer diese Nähe verhindern wollte, würde sich zum Gespött der Leute machen – die Nähe auf Bällen
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