Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
oder zwischen Arzt und Patientin; die Nähe, die in der Ausübung bestimmter Künste entsteht, beim Malen und vor allem beim Musizieren. Zwei Menschen widmen sich der edelsten aller Künste, der Musik; dafür bedarf es einer gewissen Nähe, diese Nähe hat nichts Verwerfliches an sich, und nur ein dummer, eifersüchtiger Ehemann kann darin etwas Unerwünschtes sehen. Doch gleichzeitig weiß jeder, dass in unserer Gesellschaft gerade bei der Ausübung dieser Künste, besonders beim Musizieren, die meisten Ehebrüche geschehen.
Offensichtlich hatte meine Irritation auch sie
nun irritiert. Ich konnte lange nichts sagen. Ich war wie eine auf den Kopf gestellte Flasche, aus der das Wasser nicht abfließt, weil sie zu voll ist. Ich wollte ihn beschimpfen und fortjagen, aber ich spürte, dass ich auch jetzt wieder liebenswürdig und herzlich zu ihm sein musste. Und das war ich auch. Ich tat, als wäre mir alles sehr recht, und demselben seltsamen Gefühl folgend, das mich zwang, umso freundlicher mit ihm umzugehen, je qualvoller seine Gegenwart für mich war, sagte ich ihm, ich vertraue seinem Geschmack und rate auch ihr, dasselbe zu tun. Er blieb noch lange genug, um den unangenehmen Eindruck zu verwischen, den mein plötzlicher Auftritt, meine verstörte Miene und meine Stummheit hinterlassen hatten, und verabschiedete sich mit dem Hinweis, nun stehe ja fest, was sie morgen spielen würden. Ich zweifelte nicht daran, dass ihnen die Frage, was sie spielen würden, im Vergleich zu dem, was sie wirklich beschäftigte, völlig gleichgültig war.
Mit ausgesuchter Höflichkeit begleitete ich ihn bis ins Vorzimmer (wie sollte man anders mit einem Menschen umgehen, der gekommen ist, um die Ruhe und das Glück einer ganzen Familie zu zerstören!). Mit besonderer Herzlichkeit drückte ich seine weiße, weiche Hand.»
XXII
«Den ganzen Tag lang sprach ich nicht mit ihr, ich konnte nicht. Ihre Nähe flößte mir solchen Hass ein, dass ich vor mir selbst erschrak. Beim Diner fragte sie mich vor den Kindern, wann ich fahren würde. Ich musste in der darauffolgenden Woche zu einer Versammlung in die Kreisstadt 22 . Ich sagte ihr, wann. Sie fragte, ob ich für die Reise noch etwas brauchte. Ich antwortete nicht, sondern blieb schweigend am Tisch sitzen und ging dann ebenso schweigend in mein Arbeitszimmer. In der letzten Zeit kam sie nie zu mir ins Zimmer, zumal um diese Stunde. Ich liege also im Arbeitszimmer und ärgere mich. Plötzlich vertraute Schritte. Mir kommt der furchtbare, abscheuliche Gedanke, dass sie mich um diese ungewöhnliche Zeit besucht, um wie die Frau des Uria 23 ihre schon begangene Sünde zu vertuschen. ‹Will sie wirklich zu mir?›, denke ich, während ich auf ihre näher kommenden Schritte lausche. Wenn ja, dann heißt das, dass ich recht habe. In meinem Herzen steigt ein unaussprechlicher Hass gegen sie auf. Näher, immer näher kommen die Schritte. Vielleicht geht sie doch weiter, ins Musikzimmer? Nein, die Tür knarrt, auf der Schwelle erscheint ihre hochgewachsene,
schöne Gestalt, und auf ihrem Gesicht, in ihren Augen liegt etwas Zaghaftes, Einschmeichelndes, das sie zu verbergen sucht, doch ich sehe es und weiß, was es bedeutet. Ich wäre beinahe erstickt, so lange hatte ich den Atem angehalten, nun aber griff ich nach meinem Zigarettenetui und zündete mir, den Blick immer noch auf sie gerichtet, eine Zigarette an.
‹Da will man sich ein wenig zu dir setzen, aber du fängst an zu rauchen!› Sie setzte sich dicht neben mich auf das Sofa und lehnte sich an mich.
Ich rückte weg, um sie nicht zu berühren.
‹Wie ich sehe, stört es dich, dass ich am Sonntag spielen will›, sagte sie.
‹Aber nicht im Geringsten›, sagte ich.
‹Glaubst du, ich sehe das nicht?›
‹Umso besser für dich, wenn du so viel siehst. Ich meinerseits sehe nur, dass du dich wie eine Kokotte benimmst …›
‹Wenn du schimpfen willst wie ein Droschkenkutscher, dann gehe ich.›
‹Geh nur, aber eines sollst du wissen – wenn dir die Familienehre nichts wert ist, dann kann dich meinetwegen der Teufel holen, ich ziehe die Familienehre vor!›
‹Was? Wovon redest du?›
‹In Gottes Namen, scher dich weg!›
Ob sie wirklich nicht verstand oder nur so tat, jedenfalls war sie gekränkt und wütend. Sie stand auf, ging aber nicht hinaus, sondern blieb in der Mitte des Zimmers stehen.
‹Du bist wirklich unerträglich geworden›, fing sie an. ‹Mit deinem Charakter würde nicht einmal ein Engel zurechtkommen.›
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