Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
was Sie auch tun oder sagen, genau seinen Erwartungen. Alles Anrüchige an ihm nahm ich nun mit einem eigentümlichen Vergnügen wahr, denn all dies war geeignet, mich zu beruhigen und mir zu zeigen, dass er für meine Frau auf einer so niedrigen Stufe stand, dass sie sich, wie sie gesagt hatte, unmöglich zu ihm herablassen konnte. Eifersucht verbot ich mir nun. Zum einen hatte ich mich damit schon zu lange gequält und brauchte Erholung; zum anderen wollte ich den Beteuerungen meiner Frau gern glauben und glaubte ihnen auch. Doch obwohl ich nicht mehr eifersüchtig war, blieb ich befangen in Gegenwart der beiden, sowohl beim Essen als auch danach, solange die Musik nicht begonnen hatte. Noch immer verfolgte ich ihre Bewegungen und Blicke.
Das Diner war wie alle Diners, langweilig und gestelzt. Der musikalische Teil begann recht früh. Oh, wie ich mich an jede Einzelheit dieses Abends erinnere; ich erinnere mich, wie er seine Geige holte, den Kasten aufschloss, die von
irgendeiner Dame bestickte Decke abnahm, die Geige heraushob und zu stimmen begann. Ich erinnere mich, wie meine Frau sich mit gespielt gleichgültiger Miene – ich sah, dass sie dahinter eine große Unsicherheit verbarg, sie zweifelte an ihrem Können – an den Flügel setzte und wie das übliche Ritual begann, das wiederholte A vom Klavier, das Pizzicato der Geige, das Zurechtlegen der Noten. Als nächstes erinnere ich mich, wie sie einen Blick tauschten, sich nach den Gästen umsahen, die noch ihre Plätze einnahmen, ein leises Wort wechselten, und dann begann es. Er setzte mit dem ersten Akkord ein. Sein Gesicht sah auf einmal ernst, streng und sympathisch aus, er lauschte, seine Finger griffen behutsam in die Saiten, und dann antwortete ihm der Flügel. Es begann …»
Er stockte und machte mehrmals seine eigentümlichen Geräusche. Er wollte weitersprechen, doch stattdessen schnaufte er laut und stockte wieder.
«Sie spielten die ‹Kreutzersonate› von Beethoven. Kennen Sie das erste Presto? Kennen Sie es?!», schrie er.«Oh! Ein fürchterliches Stück ist das. Gerade der erste Satz. Musik ist überhaupt etwas Fürchterliches. Was ist das? Ich verstehe es nicht. Was ist Musik? Was tut sie? Und wozu
tut sie, was sie tut? Es heißt, Musik wirke erhebend auf die Seele – Unsinn, das ist nicht wahr! Sie wirkt, furchtbar stark sogar – ich spreche von mir -, aber keinesfalls wirkt sie erhebend auf die Seele. Ihre Wirkung ist weder erhebend noch erniedrigend, sondern aufreizend. Wie soll ich es sagen? Musik bringt mich dazu, mich selbst und meine wirkliche Situation zu vergessen, sie versetzt mich in eine andere, fremde Situation: Unter dem Einfluss von Musik scheint mir, als würde ich etwas fühlen, das ich eigentlich nicht fühle, als würde ich Dinge verstehen, die ich nicht verstehe, Dinge können, die ich nicht kann. Ich erkläre mir das so, dass Musik wie Gähnen wirkt, wie Lachen: Ich bin nicht müde, aber ich gähne, wenn ich jemanden gähnen sehe, ich habe keinen Grund zum Lachen, aber ich lache, wenn ich jemanden lachen höre.
Musik versetzt mich auf der Stelle, unmittelbar in den seelischen Zustand dessen, der sie komponiert hat. Meine Seele verschmilzt mit der seinen, ich gleite mit ihm von einem Zustand zum nächsten, aber wozu ich das tue, weiß ich nicht. Der Komponist, im Fall der ‹Kreutzersonate› also zum Beispiel Beethoven, wusste ja, warum er in diesem Zustand war, dieser Zustand hat ihn dazu gebracht, auf bestimmte Weise zu
handeln, und hatte eben darum einen Sinn für ihn, für mich aber hat er keinen. Musik reizt nur auf, führt aber nirgendwohin. Nun gut, wenn ein Militärmarsch gespielt wird und Soldaten dazu marschieren, dann hat die Musik etwas erreicht, wenn man Tanzmusik spielt und ich tanze, hat sie auch etwas erreicht, und wenn eine Messe gesungen wird und ich zum Abendmahl gehe, ebenso – sonst aber ist die Musik nur Reiz, und das, was dieser Reiz auslösen soll, fehlt. Deshalb ist ihre Wirkung manchmal so furchterregend, so entsetzlich. In China ist Musik eine Staatsangelegenheit. Und so sollte es auch sein. Kann man denn zulassen, dass jeder, der möchte, einen anderen oder viele andere hypnotisiert und mit ihnen tut, was er will? Und vor allem, dass der erstbeste unmoralische Mensch das tut?
Tatsächlich liegt hier ein furchtbares Werkzeug in völlig beliebigen Händen. Nehmen Sie wiederum die ‹Kreutzersonate›, das erste Presto. Soll man dieses Presto wirklich in einem Salon spielen, inmitten von
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