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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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dekolletierten Damen? Es spielen und anschließend Beifall klatschen, Eis essen, über den neuesten Klatsch reden? Solche Stücke kann man nur unter ganz bestimmten, ernsten, bedeutsamen Umständen spielen, und nur dann, wenn ganz bestimmte, dieser Musik
entsprechende ernste Taten gefordert sind. Man kann sie spielen und anschließend das tun, worauf einen die Musik eingestimmt hat. Andernfalls aber wird eine Energie heraufbeschworen, die weder dem Ort noch der Zeit entspricht, ein Gefühl, das sich in nichts niederschlägt, und das kann nur verderblich wirken. Auf mich zumindest hatte dieses Stück eine schreckliche Wirkung; mir war, als würden mir ganz neue Gefühle offenbart, neue Möglichkeiten, von denen ich bisher nichts gewusst hatte. So ist das also, hörte ich gleichsam eine innere Stimme sagen – nicht, wie ich bisher gedacht und gelebt habe, sondern so! Was dieses Neue war, das ich erfuhr, wurde mir nicht recht klar, aber das Bewusstsein dieses neuen Zustands war sehr beglückend. Dieselben Personen wie zuvor, nicht zuletzt meine Frau und Truchatschewski, sah ich nun in einem ganz anderen Licht. Nach dem Presto spielten sie auch noch das schöne, aber gewöhnliche, konventionelle Andante mit seinen nichtssagenden Variationen und das ganz und gar schwache Finale. Es folgten auf Bitten der Gäste zunächst Ernsts ‹Elegie› 24 und dann verschiedene andere kleine Stücke. Das alles war gut, aber es machte nicht den hundertsten Teil jenes Eindrucks auf mich, den das erste Presto gemacht hatte. Alles
stand schon vor dem Hintergrund ebendieses Eindrucks. Den ganzen Abend über war mir leicht und fröhlich zumute. Meine Frau hatte ich noch nie so gesehen wie an diesem Abend. Diese glänzenden Augen, dieser strenge, gewichtige Ausdruck, während sie spielte, und diese vollkommene Zerflossenheit, dieses matte, klägliche, glückselige Lächeln, nachdem sie zu Ende waren. All das sah ich, aber ich maß ihm weiter keine Bedeutung bei außer der, dass sie dasselbe empfand wie ich, dass auch sie ganze neue Gefühle erlebt hatte, gleichsam eine Erinnerung an etwas nie Gekanntes. Der Abend klang harmonisch aus, und die Gäste verabschiedeten sich.
    Truchatschewski, der wusste, dass ich zwei Tage später zu einer Versammlung fahren sollte, sagte beim Abschied, er hoffe auf eine Wiederholung des heutigen Vergnügens bei seinem nächsten Aufenthalt in Moskau. Daraus schloss ich, dass er einen Besuch in meiner Abwesenheit nicht in Erwägung zog, und das war mir angenehm. Wie sich herausstellte, würden wir uns nicht mehr sehen, da ich erst nach seiner Abreise zurückkehren sollte.
    Zum ersten Mal schüttelte ich ihm wirklich gern die Hand und dankte ihm für die Freude, die er uns bereitet hatte. Auch meiner Frau sagte
er Lebewohl. Der Abschied der beiden wirkte vollkommen natürlich und schicklich auf mich. Alles war in bester Ordnung. Meine Frau und ich waren beide sehr zufrieden mit dem Abend.»

XXIV
    «Zwei Tage später verabschiedete ich mich in bester, gelassenster Stimmung von meiner Frau und fuhr in die Kreisstadt. Dort in der Provinz gab es immer eine Unmenge zu tun, es war ein ganz eigenes Leben, eine eigene kleine Welt. Zwei Tage verbrachte ich jeweils zehn Stunden im Amt. Am zweiten Tag brachte man mir dorthin einen Brief von meiner Frau. Ich las ihn sofort. Sie schrieb von den Kindern, von einem Onkel, von der Kinderfrau und von Einkäufen und erwähnte beiläufig, als sei das völlig normal, dass Truchatschewski da gewesen sei, die versprochenen Noten gebracht und ihr angeboten habe, noch einmal mit ihr zu spielen, sie habe aber abgelehnt. Mir war nicht in Erinnerung, dass er irgendwelche Noten versprochen hatte: Mir schien, als hätte er sich beim letzten Mal endgültig verabschiedet, daher war ich nun unangenehm berührt. Doch ich hatte so viel zu tun,
dass keine Zeit zum Nachdenken blieb, und erst am Abend, als ich in mein Quartier zurückkam, las ich den Brief noch einmal. Nicht nur war Truchatschewski in meiner Abwesenheit noch einmal da gewesen, der ganze Ton des Briefs kam mir jetzt gekünstelt vor. Das rasende Tier Eifersucht stieß ein Knurren aus und wollte aus seinem Käfig heraus, doch ich fürchtete es und verschloss schnell die Gittertür. ‹Was ist diese Eifersucht für ein abscheuliches Gefühl!›, sagte ich mir. ‹Der Brief ist doch denkbar natürlich!›
    Ich legte mich ins Bett und dachte über die am nächsten Tag bevorstehenden Angelegenheiten nach. Sonst konnte ich während dieser

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