Kreuz des Südens
fühlte, aber er wusste, dass er so klang.
»Wenn du sie jetzt nicht rausstreckst, hacke ich sie dir ab.«
Divinity goss einen Becher Wodka voll und gab ihn Weed. »Hier, Schätzchen, das wird dir gut tun. Ich weiß, es fühlt sich nicht schön an, aber wir haben uns das alle machen lassen, weißt du?«, sagte sie und streckte ihm ihre wunderschöne Hand mit der selbst tätowierten »2« entgegen.
Weed trank den Wodka und fing dabei fast Feuer. Seine Gedanken drifteten völlig ab, und als er die Hand ausstreckte, stellte er verblüfft fest, dass er die Stiche und tiefen Kratzer der rot glühenden Nadel ertragen konnte. Er weinte nicht. Er legte einen Schalter um, der den Schmerz auslöschte. Er sah nicht hin, als Divinity Tinte in die Wunde laufen ließ und sie dort fest verrieb. Weed schwankte. Smoke musste ihm zweimal befehlen, still zu sitzen.
»Du bist Sklave Nummer fünf, kleiner Scheißer«, sagte Smoke. »Nicht schlecht, was? Nun gehörst du zu den Top Ten, ach, was sag ich, den Top Five. Das macht dich zum Hecht erster Klasse. Und von einem Hecht erster Klasse wird gottverdammt viel erwartet. Stimmt's, ihr Arschlöcher?«
»Aber hallo.«
»Ich sehe, ihr habt verfickt gut verstanden.«
»Schätzchen, mach dir keine Sorgen. Es ist gleich vorbei«, versicherte Divinity Weed.
»Wir nehmen dich bei uns auf, Schwachkopf«, sagte Smoke und stach wieder mit der Nadel in Weeds Zeigefinger über dem ersten Fingerknochen. »Du wirst für uns einen kleinen Kunstjob erledigen.«
Weed fiel fast in sich zusammen, und Divinity musste ihn aufrecht halten. Sie lachte und rieb ihm den Rücken. »Wir werden dieser Stadt zeigen, wer wir sind. Ein für alle Mal«, fuhr Smoke fort zu brabbeln. Er war voll mit Wodka und mit sich selbst. »Du hast doch Farben, oder nicht, du kleiner Kunstwichser?«
Smokes Worte verwirbelten sich in Weeds Kopf wie die Sterne der Milchstraße.
»Der ist weg, Mann«, sagte Beeper. »Was sollen wir mit ihm machen?«
»Gar nichts im Moment«, sagte Smoke. »Ich hab noch eine Besorgung zu machen.«
Es war fast acht Uhr abends. Virginia West war froh. Wenn sie Überstunden machte, hatte sie wenigstens nicht mehr die Kraft, sich über das Geschirr im Waschbecken zu ärgern, die schmutzige Wäsche am Boden oder die saubere, die über Stuhllehnen hing oder von Kleiderbügeln fiel.
Sie musste auch nicht darauf warten, dass Brazil sie anrufen und ihr vorschlagen würde, eine Pizza essen oder einfach nur spazieren zu gehen, wie damals in Charlotte. Sie wusste von ihrer Net-Box, dass er es niemals versucht hatte. Und warum sollte er auch? Sie sorgte schließlich dafür, dass er wusste, dass sie nie zu Hause war, sodass, wenn es ihm auch nur einfiele anzurufen, er es letztendlich doch nicht tun würde, weil es ja zwecklos wäre. Sie war arbeiten oder ausgegangen, dachte nicht an ihn, war nicht interessiert.
Tatsächlich war acht Uhr abends früher als gewöhnlich. Meistens kam West erst um zehn oder elf nach Hause. Dann war es sogar schon zu spät, ihre Familie auf der Farm anzurufen. Sie besuchte sie auch kaum noch, weil sie jetzt so weit weg wohnte. Die Zeit war West zum Feind geworden. Stillstand bedeutete ihr unerträgliche Leere und Einsamkeit. Dann floh sie aus ihrem gemieteten Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert an der Park Avenue, die früher Scuffletown Road geheißen hatte und in Richmonds Fan-Distrikt lag.
Der Name Fan bedeutete Außenseitern, aber auch dem Großteil der Richmonder Bürger, die sich für die Stadtgeschichte nicht interessierten, so gut wie nichts. Doch ein kurzer Blick auf die Karte brachte Einsicht in die Materie. Der Begriff kam von fanned out, was bedeutete, dass sich die Gegend mehrere Meilen westlich der Innenstadt fächerförmig ausbreitete, die malerischen Straßen mit Namen wie Erdbeere, Pflaume und Hain sich wie die Finger einer Hand spreizten. Die charakteristischen Häuser waren aus Ziegel- oder Naturstein und hatten Schiefer- oder Schindeldächer, Blenden aus Buntglas, prächtige Veranden und Geländer, Kreuzblumen, Rosetten und Kuppeln. Die Stilrichtungen reichten von Queen Anne und Neo-Georgian bis hin zur römischen Villa.
Wests Stadthaus bestand aus Erdgeschoss plus zwei Stockwerken, das Erdgeschoss aus graubraunem Granit, die darüber liegenden Stockwerke aus rotem Ziegelstein. Bänder aus Buntglas liefen um die Schiebefenster im ersten Stock und die weiß gestrichene Veranda. Obwohl die Park Avenue einst zu den teuersten Adressen der Stadt gehört hatte,
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