Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
haben.«
»Oh, es gab Zeichnungen, Antonia. Die Baumeister früherer Zeiten waren sehr ordentlich und haben nicht nur die ganze Konstruktion in Grund- und Aufrissen gezeichnet, sondern die Fassade mit jeder Einzelheit, jeder Zierranke, jeder Figurenlaube und jedem Wasserspeier.«
»Haben Sie diese Pläne noch?«
»Bedauerlicherweise nicht – sie sind in den Wirren der Besatzungszeit abhanden gekommen. Aber es gibt einige Kupferstiche aus dem siebzehnten Jahrhundert, die uns noch ganz gut vermitteln können, wie die Kathedrale einst geplant war. Ich werde sie euch nachher zeigen. Wollen wir uns jetzt den Chor ansehen?«
Als sie auf das Dach des rheinseitigen Teilgebäudes gestiegen waren und dort die schmale Galerie entlanggingen, packte Susanne plötzlich Antonias Arm und hielt sich zitternd fest. »Hier... hier war es!«
»Was, Susanne?«
»Hier ist er heruntergefallen.« Mit Grauen im Blick starrte sie auf die Strebpfeiler, die von unten an den Mauern emporwuchsen.
»Fräulein Susanne, kommen Sie! Wir verlassen diese Stelle sofort und gehen wieder nach unten.« Waldegg hielt fürsorglich ihren Ellenbogen und wollte sie zur Treppe lotsen.
»Nein. Nein, ich muss es sehen. Ich kann nicht immer davonlaufen. Aber halten Sie mich fest, bitte!«
»Natürlich.«
Antonia und der Domherr nahmen Susanne in ihre Mitte und warteten, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»Ich habe es vergessen, ich wollte es vergessen. Ich war ja noch ein Kind. Wir sind hinaufgestiegen, weil Papa Zeichnungen von den Dämonen machen wollte. Ich bin auf die andere Seite des Dachs gegangen. Und dann... dann...« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Da ist ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung. Ich weiß erst wieder, dass ich unten neben einem Offizier stand, der mir erklärte, es habe ein Unglück gegeben. Wie kann Papa denn hier nur heruntergefallen sein? Die Balustrade ist doch hoch genug!«
»Vielleicht hat er sich zu weit hinausgelehnt, um ein Motiv zu erkunden, Fräulein Susanne. Oder er hat unten auf dem Domplatz etwas gesehen, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Oder es hat ihn hier etwas erschreckt, ein großer Vogel möglicherweise.«
»Oder er ist gesprungen?«
»Nie und nimmer, Fräulein Susanne. Niemals. Er war ein ganz und gar lebensbejahender Mann. Es war ein Unfall. Schrecklich bestimmt, aber ganz sicher keine Absicht.«
Noch einmal warf Susanne einen Blick in die Tiefe und erschauderte. Dann bat sie: »Gehen wir!«
Sie blieb auf dem Rückweg schweigsam, aber gefasst. Antonia hatte ihre Hand genommen, aber als sie wieder ins Haus traten, machte sie sich los, legte jedoch kurz ihre Wange an die ihrer Freundin.
»Ist wieder gut. Danke. Es war vermutlich an der Zeit.«
»Du bist wirklich mutig, Susanne. Es war bestimmt schwer.«
»Es ist mir jetzt leichter ums Herz.«
»Dann ist es gut. Wollen wir uns jetzt die Pläne ansehen?«
Die drei traten in den Salon, wo Elena am Fenster saß und einen Brief schrieb. Sie sah auf und begrüßte Susanne freundlich.
»Nun, von der schwindelerregenden Exkursion wohlbehalten zurück?«
»In einigermaßen gutem Zustand, Madame, aber etwas windzerzaust.«
»Ja, ich erinnere mich, dort oben weht es immer. Aber man hat einen überwältigenden Rundblick.«
»Sie waren schon einmal auf dem Turm?«, wollte Antonia wissen.
»Vor vielen, vielen Jahren. Der Domherr war damals so freundlich, einigen jüngeren Schwestern den Bau zu erläutern. Bei dieser Führung begeleitete uns Ihr Herr Vater, Fräulein Susanne.«
»Sie kannten Papa?«
»Ich traf ihn dieses eine Mal. Ein liebenswürdiger Mann, sehr zuvorkommend und höflich. Sie haben nicht nur sein Talent, sondern auch das gute Aussehen von ihm geerbt, Fräulein Susanne.«
Erstaunt registrierte Antonia, dass ihre Mutter zart gerötete Wangen bekam. Daniel Bernsdorf musste sie tiefer beeindruckt haben, als sie zugeben wollte. Bemerkenswert.
Waldegg erklärte: »Wir waren bereits damals bemüht, der Öffentlichkeit die Bedeutung des Doms nahezubringen, und führten gerne Besucher herum. Daniel machte es ausgezeichnet, er hatte einen hohen Kunstverstand und konnte vor allem die kleinen Kuriositäten des Baus gut erläutern. Seine Vorliebe galt den Wasserspeiern.«
»Ja, von ihnen hat er häufig Skizzen gemacht«, ergänzte Susanne. »Ich werde morgen die Zeichnungen mitbringen. Ich habe sie alle aufgehoben, aber nie mehr angesehen.«
»Mich würden sie auch interessieren, Fräulein Susanne. Er hatte ein großes Talent.« Und zu
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