Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
ferneren Zukunft Eingang in das allgemeine Bewusstsein finden. Derzeit, fürchte ich, ist sie gerade zum Scheitern verurteilt. Aber das ist kein Grund, sie zu verdammen, noch sie zu vergessen.«
»Sie glauben an ein Versagen des Kaisers in Russland?«
»Ja, Bruder Joubertin. Ich bin überzeugt davon.«
Auch Joubertin stopfte seine Pfeife und lehnte sich zurück. »Warum?«
»Weil Russland ein großes, weites Land ist. Wie mir einer der Forschungsreisenden berichtete, der mir seine Aufzeichnungen über eine Expedition dorthin vorgelegt hat, ist es sehr dünn besiedelt, und der Sommer ist trocken und heiß. Sechshunderttausend Mann, mit Tross und Pferden, wirbeln eine Menge Staub auf. Der Marsch wird beschwerlich sein, denn Wasser und Nahrung müssen über weite Entfernungen herbeigebracht werden.«
»Ein Feldherr wie Napoleon wird vorgesorgt haben.«
»Glauben Sie? Der Nachschub ist ein schwieriges logistisches Problem. Bisher haben wir noch von keiner Schlacht gehört, nicht wahr?«
»Nein, es heißt, er marschiert, ohne auf Widerstand zu stoßen, geradewegs Richtung Moskau.«
»Das gibt Ihnen nicht zu denken, Bruder Schmitz?«
»Doch, obwohl die Unterstellung abscheulich ist. Sie glauben, der Zar lässt ihn tief ins Landesinnere marschieren und schneidet ihm dann die Versorgung ab?«
»Ob er es mit Absicht macht oder deswegen, weil er seine Truppen nicht schnell genug massieren kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wird es die Kampfkraft der Großen Armee empfindlich schwächen, wenn sie sich zu lange hungrig und durstig durch die staubigen Steppen schleppen muss. Ich erlaube mir sogar noch ein weiteres Szenario. Stellen Sie sich vor, es kommt nicht vor September zu einer Entscheidungsschlacht. Dann heißt es in Russland zu überwintern. Gut, wenn Napoleon die Schlacht gewinnt. Ein Grauen, wenn sie verloren wird. Denn der Rückzug durch den russischen Winter wird einem langsamen, qualvollen Massensterben gleichen.«
»Sie sind selbst nie Soldat gewesen, Bruder Waldegg. Woher nehmen Sie diese Vorstellungen?«, fragte Faucon.
»Ich habe mich mit meiner Schwester darüber unterhalten. Ihre Schilderungen der Belagerung von Mainz und später Philippsburg im bitterkalten Winter sind sehr lehrreich.«
Faucon und auch der Arzt sahen ihn überrascht an. »Ihre Schwester? Die so mutig das Kind aus dem brennenden Haus gerettet hat?«
»Sie hat in Mainz gelebt?«, wollte Faucon wissen.
»Nein, sie hat mit ihrer Familie die Kölnischen Truppen seit 1794 begleitet.« Cornelius gab ihnen eine Zusammenfassung von Antonias Trossbubenzeit und schloss mit den Worten: »Sie hat die Schlacht von Jena und Auerstedt miterlebt und ist, so vermute ich, kriegserfahrener als fast jeder hier im Raum.«
»Und ihre Einschätzung der Lage in Russland dürfte der Wahrheit sehr nahe kommen«, mutmaßliche Faucon leise.
»Tja«, entgegnete Doktor Joubertin. »Tja. Wie es scheint, haben alle anderen vor dieser Möglichkeit die Augen zugemacht. Krieg ist eben ein einträgliches Geschäft, nicht wahr, Bruder Geißler?«
Jonathan Geißler, der Tuchhändler, hatte den Anstand, betreten auf seine Hände zu schauen.
»Uniformschneider, Musketenmacher, Schuster, Pferdezüchter, Kanonengießer, Wagenbauer, Sattler und Schwertfeger und viele andere mehr haben Arbeit erhalten. Ein Einzelner, der sich dem entzieht, ändert nichts am Lauf der Geschichte. Und von den sechshunderttausend sind auch nicht alle unfreiwillig losmarschiert.«
»Im Gegenteil, Bruder Waldegg. Aber lassen wir diese fatalistischen Gedanken. Sie haben vom Dom gesprochen, von seiner Fertigstellung. Sie kennen doch sicher den jungen Boisserée? Was halten Sie von ihm?«
»Ein idealistischer Mensch, fast fanatisch in seinen Bemühungen um sein so genanntes Domwerk. Beredt und überzeugend, in gewisser Weise bewundernswert, doch leider ein wenig enervierend. Er stellt weder die architektonische Leistung noch die vaterländische Bedeutung der Kathedrale in den Vordergrund, sondern berauscht sich an ihren christlichen Werten.«
»Er sollte Prediger werden«, knurrte Joubertin. »Er hat mir eine ganze Stunde damit in den Ohren gelegen, man müsse Unrecht erleiden und seine Feinde lieben. Seiner Meinung nach sollen alle Fürstendiener ihre Befehle verweigern und die Strafen dafür auf sich nehmen, dann würde das Gefühl der Verpflichtung Gott gegenüber bei allen Völkern wachsen und jeder Herrscher christlich handeln müssen. Ein hehrer Grundsatz eines weltfremden
Weitere Kostenlose Bücher