Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Jungen.«
»Immerhin, ein starkes Symbol, der Dom. Er weckt Visionen, und dafür sollten wir dankbar sein. So, und damit habe ich dann auch die passenden Abschlussworte für unsere heutige Sitzung gefunden.« Faucon erhob sich. »Ich werde den Tempel schließen.«
Obwohl er die Riten der Freimaurer nicht ganz ernst nehmen konnte, verbrachte Cornelius eine sehr nachdenkliche Nacht in seinem kargen Zimmer über der Druckerei. Die Symbole hielten ihre eigene Macht in sich, und die weißen Handschuhe auf dem Tisch leuchteten im Mondlicht zu ihm hin. Sie waren bestimmt für die Lebensgefährtin des Maurers, doch er hatte sie ganz spontan seiner Schwester zugedacht. Sie war das, was von der Definition her einer wirklichen Gefährtin am nächsten kam, einer Freundin, mit der er so vieles mehr bereden konnte als mit anderen Frauen. Sie kannten einander, vertrauten einander, tiefer und inniger als viele Ehepaare. Warum konnte er sich nur nicht damit zufrieden geben?
Irgendwann in den schlaflosen Stunden fasste er mit schwerem Herzen den Entschluss, eines der heiratsfähigen Mädchen aus gutem Hause zu heiraten. Es gab ihrer genug, und auch unter ihnen waren solche von Witz und Verstand. Vielleicht würde dann diese Sehnsucht nach Antonias Zärtlichkeit erträglicher werden.
Ein einsamer Reiter
Über Russlands Leichenwüstenei
Faltet hoch die Nacht die blassen Hände;
Funkeläugig durch die weite, weiße,
Kalte Stille starrt die Nacht und lauscht.
Anno Domini 1812, Dehmel
General Sebastien Renardet gehörte zum engsten Kreis um den Kaiser, und daher befand er sich ganz an der Spitze der von Tag zu Tag dahinschwindenden Großen Armee. Es war kalt, kälter, als er es je erlebt hatte, doch auf irgendeine Weise drang die Kälte nicht mehr in sein Bewusstsein. Auch der Hunger nicht und die Schmerzen in seiner Seite, da, wo ein Stück Metall zwischen seinen Rippen steckte. Er fragte sich manchmal, wenn er sich überhaupt etwas fragte, warum er noch lebte. Es waren alle Gefühle in ihm abgestorben, warum nicht auch sein Leib? Als der Feldzug begann, hatte er noch den Verlust seines ersten, treuen Pferdes bedauert, ebenso den des zweiten, das bei Borodino erschossen wurde. Sogar das des dritten, das auf dem Rückweg unter ihm jämmerlich verreckte. Danach hatte er es aufgegeben, die Pferde zu zählen, auf denen er saß. Er hatte es auch aufgegeben, die Männer zu zählen, die einst zu seiner Truppe gehörten. Bei dem ersten, der seinen Kameraden erstach um eines schimmligen Stücks Brot willen, hatte er noch befohlen, den Dieb zu erschießen, bei dem zweiten und allen anderen hatte er weggesehen. Der Anblick einer Kinderleiche, die am Wegesrand lag, verhungert und von Schwären übersät, ein Trossbub, hatte ihm schier das Herz abgedrückt, und einen flüchtigen Augenblick hatte er sogar an den vermeintlichen Trossbub Toni gedacht und dem Mädchen gewünscht, es möge irgendwo im Warmen und in Sicherheit sein. Später hatte er aufgehört, den Tausenden von Leichen – Soldaten, Trainvolk und Pferden auch nur einen Blick zu gönnen. Er hatte aufgehört, über sein eigenes Schicksal nachzudenken, ja, er empfand nicht einmal mehr Wut über den schlecht geführten, schlecht organisierten Feldzug. Bei Smolensk hatte er noch versucht, den Kaiser zur Umkehr zu bewegen, in Moskau zu einem schnellen Rückzug. Jetzt hatte er sich in das Unheil ergeben und versuchte lediglich, im Sattel zu bleiben. Er wusste kaum, wo er sich befand, irgendwann hinter Wilna hatte der Kaiser sich von dem jämmerlichen Trümmerhaufen der glorreichen Großen Armee getrennt und war jetzt im Eiltempo nach Paris unterwegs. Renardet hatte seine eigenen Kameraden aus dem Blick verloren, er ließ das müde Pferd seinen eigenen Weg entlangzockeln, in der Hoffnung, es führe ihn zu irgendeinem Ziel, vielleicht sogar zu einer warmen Unterkunft. Eine dünne Schneedecke verwischte alle Konturen, und der Himmel schien bis fast zur Erde zu hängen, bleigrau und dunkel.
Es war, als wollte nie wieder Licht werden.
Capitain David von Hoven war mit seinem Burschen Heinrich und einigen Soldaten ausgeritten, um nach Rückkehrern Ausschau zu halten. In den vergangenen Wochen waren sie in Ostpreußen eingetröpfelt, zerlumpte, kranke, verhungerte Gestalten, viele von Kämpfen, noch mehr vom Frost verstümmelt. Immerhin waren einige in der Lage, über die Ereignisse Meldung zu machen, und diese Meldungen einzusammeln, war jetzt seine Aufgabe, obwohl er
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