Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
die sie, ohne zu widersprechen, schluckte. Er wies ihr eine ruhige Ecke zu und ließ sie alleine. Dort versank sie in einen starren Kummer, aus dem sie lange Zeit niemand hervorholen konnte. Erst Nikolaus Dettering gelang es am Abend. Seine Wunde war fachgerecht genäht und verbunden worden, eine zu große Hose beulte sich über dem Verband, und in der Hand hielt er einen Teller mit Essen. Er setzte sich zu ihr und stellte den Teller zwischen ihnen ab.
»Ich weiß, es wird dir nicht schmecken. Iss es trotzdem.«
Toni schüttelte den Kopf.
»Toni, ich habe gehört, was passiert ist. Es ist grauenvoll. Ich würde dir gerne helfen.«
»Danke, Leutnant Dettering.« Es klang heiser und brüchig.
»Nikolaus, Toni. Und ich bin dein Freund.«
Sie hob den Kopf. Wenn er erwartet hatte, dass sie verweint aussehen würde, so täuschte er sich. Aber das abgrundtiefe Leid in ihren Augen machten ihn viel betroffener, als es j ede Tränenspur fertiggebracht hätte.
»Sie hat es geahnt. Seit einiger Zeit.«
»Wie alt bist du wirklich, Toni?«
»Bald sechzehn.«
»Du kannst nicht hierbleiben.«
»Doch. Ich werde eine Uniform anziehen und mitkämpfen. Und sehen, was passiert.«
»Ich glaube nicht, dass deine Mutter das gewünscht hätte.«
»Was soll ich denn sonst machen? Wo soll ich denn sonst hin? Die Armee ist meine einzige Heimat.« Es klang trostlos und trotzig, und Nikolaus schüttelte voll Mitleid den Kopf. Dennoch fühlte er sich überfordert mit diesem Wesen an seiner Seite, das sich starr und steif hielt und doch wirkte, als würde es bei dem leichtesten Anstoß wie sprödes Glas zersplittern. Schließlich hatte er einen Einfall.
»Wir wollen mit Colonel Renardet darüber reden. Erstens kann er etwas unternehmen, zweitens ist er ein verständiger Mann, und drittens mag er dich.«
Sie ließ sich mitziehen. Der junge Leutnant führte sie humpelnd zu dem Quartier des Offiziers, der ein Zimmer über der Bäckerei bezogen hatte, und wurde vorgelassen. Es war bereits dunkel, aber in dem Raum brannten einige Lampen, denn Renardet verfasste seine Berichte. Er legte aber sogleich die Feder nieder, als er sah, wer in der Tür stand.
»Kommen Sie herein. Leutnant. Sparen Sie sich die Ehrenbezeugung, sonst fallen Sie noch auf die Nase. Setzen Sie sich in den Sessel dort. Toni, du wirst mit der Bettkante vorliebnehmen müssen.«
»Danke, Colonel«, erwiderte Nikolaus und legte das verletzte Bein auf einen Aktenstapel. »Wir beide haben etwas gemeinsam, wie ich von dem Chirurgen hörte.« Sein Französisch hatte einen strengen preußischen Akzent, aber er konnte sich verständlich machen.
»Ja, tatsächlich. Wir beide sind von Toni verarztet worden. Das meinten Sie doch.«
»Richtig, und daher zu Dank verpflichtet, oder nicht?« »Auf jeden Fall. Haben Sie einen Vorschlag? Oder du, Toni?«
»Kann ich eine Uniform und ein Gewehr haben?«
»Nein!«
»Ich kann genauso schnell laden wie jeder Ihrer Grenadiere, und besser schießen als die meisten von ihnen.«
»Das kann ich nur bestätigen«, pflichtete Nikolaus ihr bei. »Trotzdem ist das nicht der richtige Weg, Toni.«
Sie sackte wieder in sich zusammen, und Renardet schlug mit besänftigendem Ton vor: »Toni, am besten gehst du nach Darmstadt zurück. Dort hast du sicher Verwandte und Freunde, die sich um dich kümmern.«
»Vielleicht. Aber...«
»Ich habe Noten an den Großherzog, und ich werde einen deiner Brüder als Kurier schicken. Er wird dich begleiten.«
»Danke. Aber...«
»Der General wird dir ein Laissez-passer ausstellen, und wir werden sehen, ob es ein Pferd für dich gibt.«
»Ich habe unser Kutschpferdchen. Aber...«
»Hast du Geld, oder haben die Marodeure auch das geraubt?«
»Ich habe unsere Kasse gerettet. Aber...«
»Colonel Renardet, ich glaube, Toni möchte Ihnen etwas mitteilen«, unterbrach Nikolaus den Franzosen.
»Also, Toni?«
»Mutter stammt aus Köln. Darmstadt war nur ein Quartier.«
Betroffen sah Renardet sie an. »Richtig, das hast du mir ja an jenem heißen Sommertag erzählt. Aber du bist schon sehr früh dort fortgezogen.«
»Ja, vor zwölf Jahren.«
Nikolaus richtete sich von seinem Sitz auf und gab einen leisen Schmerzlaut von sich.
»Nach Köln! Toni, wenn du nach Köln gehen willst, dann weiß ich einen Mann, der dich mit offenen Armen aufnehmen wird.«
»Mich?«
»Ja, dich, Toni. Davids Vater lebt in Köln.«
»Er ist ein vornehmer Mann. Das ist nichts für mich.«
»Er ist ein vornehmer und gütiger Mann,
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