Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
gütiges Gesicht im flackernden Schein des Nachtlichts. Er war inzwischen völlig ergraut, doch sein Haar war noch voll und lockig. Seine Augen lagen zwar eingebettet in tiefe Falten, erstrahlten aber wie immer voller Leben. Auf eine warme, zärtliche Weise liebte sie ihn sehr. Sie kannten einander schon lange. In jenen Tagen, als sie dem Orden angehörte, war er es gewesen, der sich um die finanziellen Belange des Klosters gekümmert hatte, um die Verwaltung der Immobilien und Pfründe. Er hatte ein gutes Verhältnis zu Mutter Ottilia, der Äbtissin, gehabt und vor allem die Küche geschätzt, über die bereits damals Jakoba herrschte. Ihr, Elena, war er zunächst mit väterlichem Wohlwollen begegnet, hatte ihr ernsthaft zugehört und ihr manchen kleinen Denkanstoß gegeben, den die frommen Schwestern vielleicht nicht unbedingt gebilligt hätten, hätten sie davon gewusst. Sie empfand schon als junges Mädchen Zuneigung zu ihm, trotzdem gab es Züge an ihm, die ihr immer verschlossen bleiben würden. Sie verstand seine Art von Neckereien nicht, sein hintergründiger Humor irritierte sie, und seine ironischen Äußerungen nahm sie bitter ernst. Er hatte sich angewöhnt, sie damit nicht mehr zu verwirren.
»Ach, Hermann.« Sie legte den Kopf an seine Schulter.
»Was ist, mein süßes Weib? Dich plagt eine Sorge. Willst du sie mir nicht anvertrauen?«
Sie schwieg weiter, und fast meinte er, sie sei eingeschlafen, als sie plötzlich wisperte: »Der achtzehnte Dezember ist angebrochen. Er ist für mich ein besonderer Tag.«
»Ja, das ist er bestimmt. Viele Leute werden etwas zum Nachdenken haben.«
»Nein, nicht wegen der Rede, Hermann. Nicht deswegen, sondern wegen dem, was vor sechzehn Jahren geschah.«
»Und was geschah vor sechzehn Jahren, mein Liebes?«
Sie nahm etwas Abstand von ihm, aber sprach weiter: »Du hast mit großer Geduld meine Launen ertragen, nachdem diese arme Frau hier gestorben ist. Du wirst mich für recht exaltiert gehalten haben.«
»Aber nein, es hat deine Nerven nur sehr beunruhigt.«
»Das hat es, aber du hast mich nie nach dem Grund gefragt, warum das so war.«
Betreten nahm er ihre Hand. »Das habe ich tatsächlich unterlassen. Ich nahm an...«
»Ja, du glaubtest, ich schwächliches Geschöpf nähme mir das Schicksal dieses Weibes so zu Herzen, dass ich mich in eine Nervenkrise steigerte. Aber die hatte einen anderen Grund, und ich schulde dir eine Erklärung, Hermann. Auch wenn ich damit Gefahr laufe, deine Achtung zu verlieren.«
»Nichts kann meine Achtung für dich mindern, Elena. Was macht den achtzehnten Dezember so bedeutsam?«
»Die Tatsache, dass ich heute vor sechzehn Jahren ein Kind geboren habe.« Der Griff um ihre Hand wurde fester. »Ich habe es nur kurze Zeit in meinen Armen halten dürfen. Dann nahm man es mir fort. Nein, falsch, Hermann, ich gab es fort. Ich konnte es nicht behalten, genau wie diese Wöchnerin. Für mich starb es, wie jenes hinfällige Kind. Dabei war meine Tochter zwar klein, aber kräftig und wohlgeformt. Die Erinnerung daran verlässt mich nie.«
»Elena.« Es klang so viel stilles Mitgefühl in ihrem Namen, dass sie anfing zu weinen. »Liebes, was ist mit dem Kind geschehen? Kann man seine Spur verfolgen? Gibt es eine Hoffnung, es zu uns zu nehmen?«
»O Hermann...« Sie schnupfte und legte wieder ihren Kopf an seine Schulter. »Du bist so gut. Ich hätte mich dir viel früher anvertrauen sollen.«
»Natürlich.« Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest.
»Eine Marktfrau hat sie genommen«, flüsterte sie. »Eine mütterliche Frau. Sie hatte zwei kleine Söhne, nach deren Geburt sie keine Kinder mehr bekommen konnte.«
»Lebt sie noch hier?« Er spürte ihr Kopfschütteln.
»Ich habe sie damals hin und wieder besucht, aber vierundneunzig ist sie mit ihrem Mann, einem Corporal der Stadtsoldaten, fortgezogen.«
»Die Stadtsoldaten sind inzwischen zurückgekehrt.«
»Ja. Ich habe meine Erkundigungen eingezogen, Hermann, das kannst du mir glauben. Aber Wilhelm Dahmen fiel achtundneunzig bei Philippsburg. Von seiner Frau hörte man nur, sie sei mit ihren Söhnen weitergezogen. Von einer Tochter war nie die Rede.«
Hermann hielt sie weiterhin still fest, und schließlich murmelte er: »So vermissen wir beide denn drei Kinder.«
Mit einem kleinen Ruck hob Elena ihren Kopf.
»Wieso drei? Ich weiß, dass David dein Sohn ist, aber...«
»Mein liebes Eheweib, ich habe eine schlimme und sündige Jugend hinter mir. Auch Cornelius ist mein
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