Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Sohn. Nur weil seine Mutter ihn als das Kind ihres Ehemanns ausgab, habe ich mich nie dazu bekannt. Es reut mich beständig.«
»Antonia und David und Cornelius. In den Wirren der Zeit verschollen. Heilige Mutter Gottes, gib, dass sie uns zurückgegeben werden.«
»Amen«, schloss der Domherr.
Gedenken im Dom
Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte, auf seinem Bette weinend saß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Der Harfenspieler, Goethe
Just an ihrem sechzehnten Geburtstag, am achtzehnten Dezember, traf Antonia in Köln ein. Als sie am Frankenufer den Frachtkahn verließ, den sie in Mainz bestiegen hatte, und durch das Stadttor geschritten war, ragte vor ihr die schwarze, düstere Kulisse des unfertigen Doms auf, der sich dräuend gegen den tief verhangenen Winterhimmel abhob. Ein Graupelschauer peitschte auf sie nieder, und ein schneidender Wind fuhr ihr durch die Kleider. Mit klammen Händen hielt sie die Tasche fest, und unter der Last ihres Tornisters gebeugt, suchte sie Schutz an einer Mauer.
Einsamkeit, Trauer und Müdigkeit zwangen sie beinahe in die Knie. Als das Graupeln in einen sanfteren Regen überging, wandte sie ihre Schritte dem hässlichen, dem Verfall preisgegebenen Koloss zu. In seinem Inneren würde sie zumindest Ruhe und Schutz vor der Witterung finden. Vielleicht sogar eine Antwort auf ihre Zweifel und Fragen.
Schön war der Dom auch von innen nicht. Die schlanken gotischen Säulen waren mit billigem, angemaltem Tannenholz verkleidet, die den Eindruck einer Barockkirche vermitteln sollten. Die alten Wandgemälde waren übertüncht worden, viele der Statuen zerstört oder geraubt. Da man für die bleierne Dachbedeckung anderweitige Verwendung gefunden hatte, drang Feuchtigkeit in das Innere. Das Regenwasser rann hinter der modernden Holzverschalung nieder und tropfte auf die Altäre. Dennoch, es duftete nach Weihrauch und Wachskerzen, und die Heiligen Drei Könige wachten wieder über die Gläubigen ihrer Stadt.
Auf einer Bank in einer Seitenkapelle kniete Antonia nieder und legte die Stirn auf die gefalteten Hände. Zu wem sie aber beten sollte, wusste sie nicht. Das Elend in ihr war so überwältigend.
Grau fiel das Winterlicht durch das bleiverglaste Fenster, das Flämmchen auf dem Altar vor ihr flackerte in der Zugluft. Nach einer Weile hob sie den Kopf und setzte sich auf die Bank. In ihrer Jackentasche knisterte es, und sie zog die verschiedenen Schriftstücke heraus, die sie bis hierher geführt hatten. Das erste, das ihr in die Finger kam, war das Schreiben von Colonel Sebastien Renardet. Toni musste sich auf die Unterlippe beißen, um den Schmerz in ihrem Herzen zu betäuben, als sie an die Umstände dachte, unter denen es geschrieben worden war.
Als sie nach der Gefangennahme des preußischen Leutnants vor Magdeburg zu ihrer Mutter zurückkehren wollte, war ihr schon am Dorfrand mit Entsetzen klar geworden, dass etwas Furchtbares geschehen war. Ihr Wagen lag umgestürzt, die Plane aufgeschlitzt, sein Inhalt verstreut. Als sie darauf zulief, fing Julia sie ab. Die kräftige Marketenderin blutete aus mehreren Kratzund Schnittwunden, war schmutzig und ihre Kleider zerrissen.
»Nicht, Toni, nicht! Geh nicht hinüber.«
»Julia, was ist passiert?«, hatte sie gekeucht und versucht, sich ihr zu entwinden.
»Deserteure. Bleib, Toni. Du kannst ihr nicht mehr helfen.« Entgeistert hatte sie Julia geschüttelt. »Was haben sie mit ihr gemacht?«
»Sie ist tot, Kind. So, wie die Deserteure jetzt auch.«
Sie waren gekommen, um Lebensmittel zu stehlen. Halb verhungerte Männer, verzweifelt und bereit, jede Gewalt anzuwenden. Elisabeth war ihnen mutig in den Weg getreten, statt zu fliehen. Zumindest hatte sie mit ihren Schreien noch die anderen gewarnt.
Julia konnte Toni nicht länger halten. Sie stand hilflos daneben, wie das Mädchen stumm und mit eckigen Bewegungen die Röcke ihrer Mutter richtete und ihr mit einem der sauberen Hemden über das Gesicht wischte. Dann wandte sie sich den Trümmern des Wagens zu und klaubte unter den Habseligkeiten Elisabeths kleines Brevier hervor. Mit ihm kniete sie neben der Toten und versuchte, ein Gebet zu sprechen. Es gelang ihr damals schon nicht.
Einer der Männer hatte den Vorfall im Hauptquartier gemeldet, und das Nächste, woran Toni sich überhaupt erinnern konnte, war, dass Renardet sie mit unnachgiebiger Hand zum Lazarett führte. Der Chirurg hatte eine beruhigende Arznei für sie,
Weitere Kostenlose Bücher