Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Tabakgeschäft. Bei ihm kannst du unterkommen, Toni. Er weiß sicher, wo die anderen Kameraden geblieben sind. Sie werden dir helfen. Bei unseren Verwandten bin ich mir nicht sicher.«
Das war Toni auch nicht. Die Großeltern waren bereits verstorben, Onkel und Tanten gab es zwar, aber an die konnte sie sich nicht mehr erinnern. Pitter Stammel und die anderen Soldaten waren ihr vertrauter als jene Familie.
Jupp hatte seine Berichte abgeliefert, einige neue empfangen und wollte so schnell wie möglich wieder zu seiner Einheit. So nahmen sie denn Abschied, und auch der hatte eine weitere Wunde in Tonis Herz gerissen. Ihre Brüder waren ein Teil ihres Lebens. Selbst wenn sie sich mehr gerauft als gekost hatten, so waren sie doch einander zugetan. In einer seltenen Anwandlung von Zärtlichkeit hatte Jupp sie an sich gezogen und seine Stirn auf die ihre gedrückt.
»Ich werde alles daransetzen, dich wiederzufinden, Toni«, hatte er versprochen. »Schreiben ist nicht meine Stärke, aber wenn du ein Quartier hast, schick mir Botschaft.«
Sie hatte genickt und ihm dann einen Kuss auf die Wange gegeben. Sprechen konnte sie nicht.
Nun starrte sie auf den Zettel, den er ihr gegeben hatte. Pitter Stammel – hoffentlich würde er sie aufnehmen.
Pitter, nun ein gesetzter Mann von knapp dreißig Jahren, stand in seinem kleinen Tabakgeschäft und betrachtete mit Staunen den Jungen, der schmächtig und durchgefroren vor ihm stand.
»Toni Dahmen. Gott im Himmel, es ist eine Ewigkeit her! Komm herein, Junge! Komm und wärm dich erst einmal auf. Den Laden kann ich zumachen, bei dem Mistwetter kommt heute keiner mehr. Toni, der Lausebengel. Wie geht es deiner Mutter? Ach, sie hat mir immer ein Stückchen Extrawurst zugesteckt. Auch wenn es knapp wurde.«
»Meine Mutter ist tot.«
»Das tut mir leid. Es tut mir ja so leid. Sie war immer gut zu mir.« Der Regimentspfeifer hatte nicht vergessen, wie sich Elisabeth um die jüngsten der Roten Funken gekümmert hatte, die an der Seite ihres Mannes ausgezogen waren, um ihr Land zu verteidigen. Pitter empfing Toni wirklich mit offenen Armen. Marie, seine Frau, weitaus kühler.
Das Paar hatte sich ein einigermaßen auskömmliches Leben aufgebaut. Sie bewohnten eines der schmalbrüstigen, alten Häuser, die sich an der alten Römermauer entlangzogen. Pitter erhielt von der Stadt eine Pension als ehemaliger Soldat, das Lädchen florierte, denn die Sitte des Zigarrenrauchens griff zunehmend um sich, und die Mode des Tabakschnupfens hatte der französische Kaiser populär gemacht. Marie, die er nach seiner Rückkehr geheiratet hatte, rollte im Hinterstübchen Zigarren, er selbst kümmerte sich um den Verkauf. Sie hatten eine dreijährige Tochter, die ihrer Mutter am Schürzenzipfel hing, aber nicht viel Aufmerksamkeit erhielt. Ein mageres, sehr kleinwüchsiges Dienstmädchen war auch vorhanden. Es wurde Maddy gerufen und machte einen verschüchterten Eindruck. Das war sicher Maries Verdienst, denn obwohl die Frau noch keine fünfundzwanzig war, hatte sie schon scharfe Linien im Gesicht und eine ebenso scharfe Zunge.
Es fand sich für Toni ein dunkles, feuchtes Kämmerchen, im Halbkeller nach hinten in den Hof hinaus. Licht kam nur von einem schmutzigen Fenster oben unter der Decke. Eine schmale Pritsche diente als Bett, ein fadenscheiniges Laken und nicht besonders saubere Wolldecken als Bettwäsche. Aber Toni war es zufrieden. Unterwegs mit den Soldaten hatte sie unter schlechteren Bedingungen geschlafen. Außerdem gefiel ihr der allgegenwärtige Tabakduft.
Aber das Zusammenleben mit den Gastgebern gestaltete sich problematisch, selbst als Toni anbot, ein Kostgeld zu zahlen. Ob es an der zweiten Schwangerschaft lag oder an Maries grundlegenden Charakterzügen – sie war eine säuerliche Frau, die Toni jeden Bissen missgönnte und beständig nörgelte. Das Weihnachtsfest 1806 sollte Toni als eines der trübseligsten ihres Lebens in Erinnerung bleiben. Im Januar schließlich, nach einer heftigen Auseinandersetzung mit der kratzborstigen Marie, machte sie sich auf, die anderen Adressen aufzusuchen, die sie in Köln kannte.
Ihre erste Wahl fiel auf Renardets vornehmes Fräulein. So stand sie also in ihrer geflickten Jacke und den ausgetretenen Stiefeln vor dem Palais der Hirzens und rang mit sich, ob sie es wagen sollte, den Türklopfer zu betätigen. Sie machte schließlich einen mutigen Schritt darauf zu, als sich die Tür öffnete und zwei junge Damen auf die Straße traten. Sie
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