Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Bengel behandelt. Er hatte ihn schon früh das Schachspiel gelehrt und ihn nie absichtlich gewinnen lassen. Das hatte er ihm hoch angerechnet. Er nahm ihn auch zu Unternehmungen mit, die die Erwachsenen mit Sicherheit nicht gebilligt hätten. Ein Hunderennen im Park, Schwimmen im Rhein, das Erforschen der alten Römermauer und halbzerfallener Häuser und was dergleichen Belustigungen abenteuersuchender Jungen mehr waren. Sogar die Gedanken der Revolution brachte er ihm näher, und manches davon hatte sich früh bei ihm eingeprägt. Vielleicht war es Cornelius’ rebellische Art, die Welt zu sehen, die ihm, David, es so schwer machte, Adelsprivilegien zu akzeptieren, wenn sie nicht auf Leistung gründeten.
Cornelius’ Verhaftung und Bestrafung hatten ihn damals, er war gerade siebzehn und an der École militaire aufgenommen worden, tief getroffen. Weniger erschüttert hatte ihn Waldeggs Geständnis seiner Vaterschaft im selben Brief. Dass er der natürliche Sohn des Domherrn war, hatte er selbst herausgefunden, und obwohl Cornelius als sein Patensohn galt, hatte er sich auch dazu Gedanken gemacht. Isabetta hatte immer genörgelt, der Domherr würde sich um Cornelius mehr kümmern als um ihren Sohn. Das stimmte zwar nicht, zumindest hatte David nie den Eindruck gehabt. Er war glücklich, als er erfuhr, Cornelius seinen Halbbruder nennen zu dürfen, und darum hatte er sich intensiv darum bemüht, in Brest etwas für ihn zu erreichen. Nun war Cornelius frei, aber zu einem fernen Ziel aufgebrochen und nicht erreichbar. Hingegen konnte David sich vorstellen, wie er, zumindest früher, auf seine jetzige Lage reagiert hätte. Die Pistole würde in seinen Vorschlägen keine Rolle spielen. Eine dramatische Szene vor dem Gericht hingegen schon. Strafmindernd würde sie sich nicht auswirken.
Mit einem grimmigen Lächeln sah David die Waffe an. Cornelius hatte eine aufrührerische Ader und auch etwas von einem Märtyrer. Ehre erkannte er an, aber es war eine, die in seiner Person und seinem Charakter begründet war, nicht das, was eine Gesellschaft als solche deklariert hatte. Es gehörte Mut dazu, gegen die Regeln aufzubegehren, sich dabei selbst treu zu bleiben und bei einem Scheitern der Konsequenz ins Auge zu sehen.
Würde er den Mut haben, mit der Schande weiterzuleben?, fragte sich David zum wiederholten Male.
Die Straßen waren dunkel geworden, die Lichter erloschen. Mitternacht war lange vorüber, und er fühlte, wie die Müdigkeit ihre klammen Finger um seinen Kopf presste. Vollständig angezogen legte er sich auf das Bett und starrte auf die Schatten, die die Lampe in den Zimmerecken umherhuschen ließ. Die Gedanken an den Tod huschten mit ihnen. David war ihm begegnet, in seiner entsetzlichsten Form. Er hatte Kameraden sterben sehen, sein eigener Bursche hatte in seinen Armen das Leben ausgehaucht, blutend und keuchend vor Schmerzen, die ihm ein Bauchschuss bescherte. Er hatte Leichen auf den Schlachtfeldern gesehen, geschändete Kinder und Frauen in den geplünderten Dörfern. Sinnlos abgeschlachtete Tiere, verendete Pferde. Er hatte Soldaten unter den Prügeln eines Unteroffiziers sterben sehen, und dieses Bild würgte noch immer in seiner Kehle.
Eine Kugel, richtig platziert, bedeutete ein schnelles Ende. Ein Ende der Erinnerungen, ein Ende der Zukunftsangst, ein Ende der quälenden Erkenntnis seines Versagens.
In der einsamsten Stunde der Nacht, als es drei Uhr schlug, stand David auf und setzte sich an sein Schreibpult, um seinen letzten Brief zu schreiben. Viele Seiten wurde er lang, und die graue Morgendämmerung erhellte schon das Rechteck des Fensters, als er ihn mit den Worten schloss: »Und grüßen Sie mir, geliebter Vater, auch das Mädchen, das jetzt in Ihrem Haus lebt. Antonia ist mir als leuchtendes Beispiel von Tapferkeit und Lauterkeit erschienen.«
Eine Amsel hob mit ihrem jubilierenden Gesang an, den Tag des Gerichts zu verkünden.
Ein Domkapitel
Die Stärke legt das Fundament, die Weisheit schuf die Pläne, hoch hebt sich bis zum Firmament des Tempels hehre Schöne.
Freimaurerlied
»Sie fühlen sich wirklich stark genug, Herr Waldegg?«
»Ja, meine Liebe, körperlich ganz bestimmt. Der Spaziergang tut mir gut.« Hermann Waldegg, in steingrauem Frack und hellen Hosen, die ebenfalls grauen Locken auf seinem hutlosen Haupt vom Frühlingswind zerzaust, schritt kräftig neben Antonia aus. Auch ihre Haare waren unbedeckt, und einzelne Strähnchen leuchteten in der Sonne golden
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