Kreuzdame - Köln Krimi
zu Ende bringen wollte. Doch dann riss ich mich aus meinen Träumen und hob ab.
»Britta«, flüsterte eine Stimme, »Britta hilf mir, bitte, komm, ich kann nicht mehr …«
»Hallo«, rief ich, »hallo, wer ist da?« Doch ich hörte nur ein Tuten.
»Welcher Idiot ruft denn so früh an am Sonntagmorgen?«, murmelte Martin und drehte sich auf die andere Seite.
»Ich glaube, das war Charlotte«, sagte ich, aber Martin schlief schon wieder. Ich stand auf, putzte mir die Zähne, zog mich an und setzte mich ins Auto. Hoffentlich war mein Restalkoholspiegel nicht zu hoch für diese Fahrt.
Mein Herz klopfte viel zu schnell, als ich bei Charlottes und Johannes’ Haus eintraf. Ich klingelte, doch es tat sich nichts. Ich ging um das Haus herum, stieß die angelehnte Terrassentür auf und stand im Wohnzimmer. »Charlotte?«, rief ich. Dann rannte ich in die Küche, ins Schlafzimmer. »Charlotte?«
Ich fand sie im Bad, in der Wanne, blass und ohne Besinnung. Die rechte Hand hing schlaff über den Beckenrand, an der linken klaffte ein tiefer Schnitt quer über das Handgelenk, und Blut strömte aus der Pulsader. Ich nahm ein Handtuch, zerriss es in Streifen und band ihr den Arm ab. Die Blutung war gestoppt, und ich hoffte, sie hatte nicht zu viel Blut verloren, zum Überleben.
Mit zitternden Fingern tippte ich die 112 in mein Handy und rief den Notarzt. »Ein Suizidversuch«, sagte ich und gab die Adresse mit fester Stimme durch, der ich erstaunt hinterher horchte. Danach beugte ich mich zu Charlotte hinunter, streichelte ihr Gesicht und flüsterte: »Du schaffst das, halte durch. Du bist stark, du wirst weiterleben. Ich bin bei dir …«
Ich redete, erfand neue Beschwörungsformeln und hoffte, sie irgendwie zu erreichen. Es kam mir vor, als wäre eine kleine Ewigkeit vergangen, als endlich der Notarztwagen vor der Tür hielt und die Männer ins Haus stürmten.
Im Krankenhaus ließen sie mich im Flur warten. Draußen war strahlend schönes Herbstwetter, der Tag ging seinen Weg, doch hier drinnen brannten die Lampen so hell, als wäre es schon Abend oder Nacht. Vor meinem inneren Auge erschien immer wieder ein Doktor mit besorgter Miene und den Worten: »Leider …«
Jedes Mal hatte ich Mühe, mich von dieser Vorstellung zu lösen, redete mir gut zu, dass sie ganz bestimmt gerettet würde, und war doch immer weniger sicher. Als mein Handy klingelte, fiel mir ein, dass ich es hätte ausmachen müssen, ich als Arztfrau sollte solche Vorschriften kennen und einhalten. Es war Martin. Als er hörte, was geschehen war, versprach er, sofort zu kommen. Für mich war das wie das Licht am Ende des Tunnels, wie Land in Sicht bei einer Schifffahrt im Nebel.
Als sich die Aufzugtür öffnete und er heraustrat, lief ich ihm entgegen und fiel in seine Arme. »Nicht noch ein Unglück«, flüsterte ich, »nicht noch eine Tote. – Was ist mit uns geschehen? Was hat uns auseinandergerissen, warum sind wir plötzlich so verändert? Es kommt mir vor, als hätte jeder hinter seinem Gesicht ein zweites in sich verborgen, als wären wir alle zu Doppelköpfen geworden, zu undurchschaubaren Menschen, und das, obwohl wir geglaubt hatten, uns so genau zu kennen!«
»Das ist das Leben«, sagte Martin. »Es gibt Zeiten, in denen alles auseinanderfällt, zusammenstürzt. Alles, was vorher fest gefügt war, scheint sich aufzulösen. Mir geht es genauso. Es ist, als ob uns der Halt verloren ginge, der Halt, an den wir uns gewöhnt hatten, ja der uns half zu leben.«
In diesem Moment sah ich einen jungen Mann an uns vorbeieilen, er hastete zum Treppenhaus, nahm dort zwei Stufen auf einmal und war schnell verschwunden.
»Das war Lukas!«, rief ich, sprang auf und rannte ihm nach, die Treppe hoch, zwei Stockwerke weiter zur Gynäkologie. Als ich die Tür zur Station öffnete, drehte sich Lukas um und begann zu weinen.
»Was ist passiert?«, rief ich wie von Sinnen. »Ist etwas mit Carolin?«
»Sie hat das Kind verloren«, flüsterte er, »unser Kind ist gestorben, bevor es auf die Welt kommen konnte. Unser Kind ist tot.«
Carolin war schon bei der Ausschabung, damit nichts Hoffnungsfrohes übrig blieb in ihr. Lukas’ Verzweiflung tat mir mehr weh als die Trauer um das nicht geborene Enkelkind, und als ich später bei Carolin am Bett saß, hatte ich Mühe, ihr Trost zu spenden.
Im Grunde meines Herzens war ich froh, dass sie wieder frei war, um ihr Examen zu machen, und auch ein klein wenig, dass ich befreit war von den Großmutterpflichten. Es
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