Kreuzdame - Köln Krimi
kam mir vor, als ob die Zukunft ein Stückchen hinausgeschoben worden wäre, doch schalt ich mich gleichzeitig eine Egoistin, wenn ich mein trauriges Kind sah und mich daran erinnerte, wie begeistert sie mir vor Kurzem die frohe Botschaft verkündet hatte. Von Johannes wusste ich, wie verheerend sich eine Fehlgeburt auf die Psyche einer Frau auswirken konnte, gerade zu diesem frühen Zeitpunkt, wenn das Kind noch nicht als eigenständige Person wahrgenommen wird, sondern sein Tod als das Absterben eines Teils des eigenen Selbst erlebt wird. Vielleicht würde Carolin anschließend Schuldgefühle haben und Neid auf andere Mütter spüren, vielleicht geriet sie sogar in eine Depression und ich würde Mühe haben, ihr dabei zur Seite zu stehen. Aber als Lukas leise hereinkam, streckte mein Kind seine Arme aus, und ich wusste, dass ich hier in die zweite Reihe gerutscht war.
»Tschüss, mein Schatz«, murmelte ich und streichelte ihr Gesicht, dieses Köpfchen, das vor vielen Jahren genau auf dieser Station aus meinem Leib herausgekrochen war. Bevor mir die Tränen kamen, verließ ich das Zimmer, ging langsam die Treppe hinunter und wusste plötzlich, dass Charlotte lebte.
»Sie hat Blutkonserven bekommen«, sagte Martin erleichtert, »und ist wieder ansprechbar. Wenn du willst, kannst du zu ihr gehen.«
Natürlich wollte ich. Charlotte war sehr blass und sah sehr zerbrechlich aus. Ihre großen Augen blickten mich an, als hätten sie alles Leid der Welt gesehen. Ich setzte mich auf die Bettkante, obwohl ich wusste, dass die Schwestern so etwas verbieten würden, nahm ihre heile Hand in meine und fragte leise: »Charlotte, warum?«
»Ich habe keine Zukunft mehr«, flüsterte sie und begann zu weinen.
Ich wusste, was sie meinte, doch ich hütete mich, dieses Wissen preiszugeben. Immer noch hoffte ich, dass alles wieder gut würde, deshalb sagte ich so heiter wie möglich: »Alles wird wieder gut, Charlotte, es gibt immer eine Tür, die sich öffnet, wenn eine andere zugefallen ist.«
Sie sah mich lange an. »Du wusstest es, nicht wahr? Du hast es mir nicht gesagt, weil du mich schonen wolltest, oder? Aber nun ist es mit aller Macht über mich hereingebrochen, es hat mich aus der Bahn geschleudert, aus meinem Leben, das lange Zeit so harmonisch schien, so erfolgreich und beneidenswert wohl sortiert.«
»Ich habe nichts wirklich gewusst, Charlotte, nur geahnt habe ich es. Eine einzige Begegnung war es, die mich argwöhnisch gemacht hat. Aber ich wollte es nicht glauben, weil nicht sein soll, was nicht sein darf …«
Ich musste an die zwei Albinogeschwister denken, die aus einer schwarzen Familie stammten. Ihr Bild hatte ich beim Friseur in einer Illustrierten gesehen. Auch das war etwas, das eigentlich nicht sein konnte.
»Mit einer anderen Frau hätte ich vielleicht konkurrieren können«, sagte Charlotte, »das hätte ich mir zugetraut. Immerhin war ich mal Model und im Urlaub immer die Schönste, hätte jedem Mann den Kopf verdrehen können und habe doch immer nur Johannes geliebt. Und jetzt so etwas, er betrügt mich mit diesem Mann, den ich selbst ins Haus geschleppt habe! Habe geglaubt, dass einer wie er weder mir noch Johannes gefährlich werden könnte. Seit der Unterprima bin ich mit Johannes zusammen, ich kann mir nichts anderes vorstellen.«
»Vielleicht hat ihn Rainer verführt?«
»Entschuldige mal, wenn jetzt eine Lesbe vorbeikommt und du bist nicht auf Frauen aus, könnte die dich denn einfach so verführen?«
Natürlich, es stimmte, was sie sagte, aber irgendetwas musste doch geschehen sein, dass Johannes auf einmal die Seiten gewechselt hatte.
Ich saß noch ein bisschen schweigend bei ihr am Bett. Charlotte hatte die Augen geschlossen und wollte schlafen. Auf Zehenspitzen ging ich hinaus.
Draußen saß Johannes neben Martin, und ich erschrak, als er hochsprang und auf mich zukam. »Wie geht es Charlotte? Meinst du, ich kann zu ihr?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich, »sie schläft jetzt. Sie war sehr müde, das wirst du dir denken können, und erschöpft. Ich frage mich, was in dir vorgegangen ist, was hast du dir dabei gedacht!« Ich brach ab. Meine Stimme war laut gewesen, fordernd, aber das war nicht meine Rolle. Ich stand auf der falschen Bühne mit einem Drehbuch, das ich nicht kannte.
»Sollen wir hier bleiben, bei dir, Johannes?«, fragte Martin ruhig, und Johannes nickte mit einem so flehentlichen Blick, dass mir plötzlich klar war: Es gab keinen Sieger, keinen
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