Kreuzigers Tod
schienen auch das Dickicht der Vorzeichnung zu lichten. Ich ging noch zwei Schritte zurück und nocheinen. Das Kleine, die vielen Tropfen vor allem, verlor da an Deutlichkeit und das Große, Zusammenhängende, nämlich die Vorzeichnung, trat hervor, immer klarer, immer realistischer, in einer Weise, die man sich angesichts der wirren Linien, die man unmittelbar vor dem Bild stehend sah, nie hätte träumen lassen. Was für ein Künstler dieser Mannlechner doch war! Zumal er selbst unmittelbar vor dem Bild stehend zeichnen musste. Was für eine bestechende Klarheit und Lebendigkeit die Zeichnung aus dem Abstand gewann! Als wäre das Lebendige nur als nebuloser Rhythmus, als fließendes Gewebe zu fassen und grundsätzlich nicht pedantisch auf den Punkt zu bringen. Es war eine Frau, die die Axt in Kreuzigers Schädel gewuchtet hatte, mit einer Kraft, die man ihrem Körper nie zugetraut hätte, mit einer Wut, die ich so nie an ihr erlebt hatte. Sie schien noch am ganzen Leib zu zittern wie ein Katapult, das gerade erst seine Last hinausgeschnellt hatte. Nicht die Mühlbacherin war es, es war - Anna. Das traf mich wie ein Keulenschlag. Anna. Wie zum Teufel kam er dazu, Anna als die Mörderin zu malen? Ich drehte mich nach Mannlechner um, seine Augen waren geschlossen, er musste eingeschlafen sein. Anna! Anna! Ich erinnerte mich an die Aussagen Annas und der Mühlbacherin. Anna hatte gesagt, die Mühlbacherin habe nach dem angeblichen Leichenfund an ihre Tür geschlagen und laut nach ihr gerufen, während sie im Bad gewesen sei und die Tür nicht habe öffnen wollen. Aufgrund der Aufgeregtheit der Mühlbacherin habe sie ein Unglück gewittert. Die Mühlbacherin aber hatte angegeben, nur bei der Anna geläutet zu haben. Es habe sich nichts gerührt und da sei sie, ohne ihr etwas von der gefundenen Leiche zusagen, weitergegangen. Schlecht abgesprochene Lügen! Die Anna erschlug ihren Mann, dann kamen der Mannlechner und die Mühlbacherin hinzu, und aus irgendeinem Grund beschlossen die beiden, Anna zu decken. So erfanden sie die Geschichte von der Mühlbacherin und ihrem Leichenfund. Natürlich musste die Mühlbacherin auf dem Weg vom Tatort zu ihrem Haus bei der Anna vorbeikommen und zumindest versuchen, die Anna zu benachrichtigen. Alles andere wäre unglaubwürdig gewesen. Beide hatten das schließlich auch erzählt. Und die Anna hatte die Geschichte so übertrieben ausgeschmückt mit der wild klopfenden Mühlbacherin und jener Ahnung, dass ihrem Mann etwas geschehen sein musste, damit sie bei der tatsächlich erfolgten Benachrichtigung durch mich gefasster wirken durfte. So musste sie nicht so viel schauspielern, logisch!
Aber irgendetwas gefiel mir nicht an der Vorstellung, dass Anna die Mörderin sein sollte. Wer wäre mir als Mörder lieber gewesen? Wen hätte ich gern verhaftet und der staatlichen Gerichtsmühle ausgeliefert? Wem würde ich es gönnen, dass seine Existenz, sein Zeitvorrat in einem Verlies verfaulte? Dem alten Kreuziger vielleicht, aber sicher nicht Anna. Die meisten Frauen hier heroben wurden von den Widrigkeiten des Frau- Seins in einer Männerwelt so abgehärtet, dass vom Weiblichen oft nicht viel übrig blieb. Jene verhärmt geschlechtslose Tüchtigkeit, die bei den Bäuerinnen weit vor den Wechseljahren zutage trat - bei Anna schien sie sich nicht anzukündigen. Anna hatte sich eine unnachgiebige Wehleidigkeit bewahrt, die auch die kleinste Verletzung nicht hinnehmen zu wollen schien. Warum hatte sie es getan? Ich würde es bald erfahren. Für michstand fest, dass sie einen guten Grund gehabt haben musste. Einen Grund, der sie möglicherweise sogar entschuldigte. War aber ein Grund, der einen Mord entschuldigte, überhaupt denkbar?
Durch den Wald gehend, auf dem Weg vom Mannlechner zu Kreuzigers Haus, begann ich nachzudenken. Stell dir zum Beispiel vor, dachte ich, du stehst mit dem Auto vor einer Ampel und wartest auf das Grünzeichen. Hinter dir bremst einer zu spät und fährt dir hinein. Dann kommt er zu dir und entschuldigt sich. Was machst du? Du vergibst ihm vielleicht, weil ein Versehen eingetreten ist, das heißt ein Verlust der Herrschaft über die äußeren Verhältnisse, der unter den gegebenen Umständen dazu führte, dass er mit seinem Auto das deine gerammt hat. Wenn nun, dachte ich weiter, die Umstände andere sind, zum Beispiel diejenigen, dass man Tisch und Bett teilt und miteinander lebt, kann dann ein Versehen, ein Verlust der Selbstbeherrschung nicht eventuell darin
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