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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Oberdorfer
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bestehen, dass einem in einer ganz bestimmten Situation eine Axt, die man gerade in Händen hält, ausrutscht, sich aufgestauter Widerwille und Hass dergestalt verselbstständigen, dass man den Ehepartner - versehentlich - erschlägt? Wenn man im Fall des Unfalls vor der Kreuzung Opfer eines fremden Versehens wird, heißt das, dass man einen Schaden am Auto zu beheben hat. Derjenige aber, der erschlagen wird, verliert sein Leben, ein Verlust, von dem man nicht sagen kann, wie groß er ist, ja ein Verlust, der streng genommen gar kein Verlust ist - oder wenn, dann ein Verlust sui generis, weil er denjenigen, der den Verlust zu beklagen hätte, zum Verschwinden bringt. Wie sieht es da mit der Möglichkeit einer Entschuldigung aus? An-genommen, der Mann, der deinem Auto einen Schaden beigebracht hat, entschuldigt sich freundlich und aufrichtig und bekennt, dass er kein Geld hat, stattdessen aber eine Frau, Kinder, Schulden und so fort. Einem solchen Mann könnte, mit einem Kopfnicken, vergeben werden. Er wäre entschuldigt und der Vorfall ungeschehen. Wir würden den Fall als ein Unglück betrachten, das wir dem letzten Glied in einer Kette von Ursachen, dem anderen Fahrer, nicht weiter übel nähmen. Wir würden uns nach dem Unglück trotz der Beschädigung des Autos vielleicht sogar besser fühlen als zuvor, weil wir uns als vornehm erweisen konnten, als jemand, der in der Lage ist, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Wer aber könnte einen Mord vergeben? Der Ermordete ist nicht mehr da, er kann keine Entschuldigung annehmen. Es ist der Staat, der sich an dieser Stelle einschaltet und so tut, als sei ihm ein Unrecht geschehen, und der Staat - entschuldigt nichts. Der Mörder wird vom Staat und seinen bewaffneten Verbänden bis ans Ende seiner Tage ohne die theoretische Möglichkeit einer Nachsicht gejagt. Und wenn man ihn hat, wird er mit allen juristischen Finessen, die der moderne Rechtsstaat zu bieten hat, abgeurteilt und in ein Gefängnis geworfen, aller Wahrscheinlichkeit nach lebenslang. Gibt es keine andere Möglichkeit, mit einem Mörder zu verfahren? Nein, denn wenn man damit beginnt, den Mördern ihre Morde nachzusehen, bedeutet dies das Ende der öffentlichen Ordnung. Und dem zivilisierten Menschen ist die öffentliche Ordnung das, was dem Fisch das Wasser ist. Ihr opfert man die Verbrecher gern, weil sie sich ja immerhin selbst ins Unrecht gesetzt haben. Und doch ist es die Gemeinschaft, die ihr Unglück braucht, damitsie funktionieren kann. Es war nur allzu verständlich, dass es sich so verhielt, wie es sich verhielt, und kaum vorstellbar, dass es je anders sein würde: eine kleinkarierte, biedere Ordnung, ohne Großzügigkeit, ohne Beweglichkeit, ohne die Möglichkeit des augenzwinkernden »Macht nichts!«. Und doch gab und gibt es auch ganz andere Gebilde, den »Wald« zum Beispiel oder das »Meer« oder die »Sprache«, die nicht so stümperhaft straff organisiert sind wie die menschliche Gesellschaft. - Dachte ich tatsächlich so, oder denke ich nur heute als ein fast schon alter Mann so? Die Perspektiven verschwimmen, aber sicher ist, dass ich ein unangenehmes Gefühl hatte, als ich mich aufs Haus der Mörderin zubewegte. Ein Gefühl, das mir sagte, dass ich dort, wo ich hinwollte, nichts verloren hatte. Ja, ich erinnere mich deutlich an eine verrückte Idee, die mir kam: nicht weiterzugehen, einerseits nicht weiterzugehen, aber andererseits auch nicht umzukehren, sondern vom Weg auszuscheren, und zwar nach Norden. Ich hatte Lust, einfach nach Norden zu gehen, in die Tiefe des Waldes hinein, und nicht stehen zu bleiben, bis die Waldgrenze erreicht war, und auch dann weiterzugehen, zu klettern, über die erste Bergkette und die nächste und die nächste, bis ich anderswo hinkäme, wo eine andere Geschichte spielte, in die ich mich unauffällig einleben würde, als einer der vielen Stillen, die nie etwas sagten. Heraus aus dem Zwang, irgendwo einen Mörder abliefern zu müssen. Was ging mich das Ganze denn eigentlich an? Ich erinnerte mich daran, in der Stadt einmal auf einer Hauswand einen dünnen krakeligen Schriftzug gesehen zu haben. Da war gestanden: »Scheiß auf den Staat.« Ich hatte mich beinahe geschämt, das zu lesen,und war schnell daran vorbeigehuscht, aus Angst - vor der Wahrheit.
    Ich hatte schon einen Großteil des Weges zu Annas Haus hinter mir, als ich stehen blieb. Ich schaute in den Wald. Mir schien, dass ich dort etwas sah. Nicht oberhalb des Weges, sondern unterhalb. Dreißig

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