Kreuzigers Tod
wieder ein paar Meter, aber das nächste Mal würde er besser zielen. Ich wollte schneller laufen, um jeden Preis! Ich strengte mich mit dem Mut der Verzweiflung an, aber mein Wille, schneller zu werden, war wie ein durchdrehendes Rad, das nirgendwo griff. Ich wurde müde und jetzt legte sich etwas zwischen meine Beine. Es war ein Fuß meines Angreifers. Er hebelte mich schön aus. Im Grunde genommen nutzte er meine eigene Muskelkraft und verhakte mit einem kleinen und gezielten Eingriff lediglich meine Beine. Beim Durch-die-Luft-Fliegen genoss ich es, nicht mehr laufen zu müssen. Die Landung auf dem Waldboden war weich und angenehm, ich rollte langsam aus und kam auf dem Rücken zu liegen. Über mir: der unbekannte Mann, seine Augen hatten einen satten und zufriedenen Ausdruck. Jetzt hatte er mich. Mir war, als ginge die Lage mich gar nichts an, als gäbe esimmer noch die Möglichkeit zu sagen: »O. K., lassen wir's, genug.«
Aber die gab es nicht, und ich versuchte mir darüber klar zu werden, dass nichts Geringeres als mein Tod bevorstand. Dieser Moment ist in der Geschichte meines Lebens ein besonderer, weil ich nur in ihm dem Tod unmittelbar ins Auge sah. Es gibt diese gewohnheitsmäßige Art, an den Tod zu denken, die mit Angst und Schrecken verbunden ist, aber dieser Art, an den Tod zu denken, fehlt es an Todesnähe. Sie ist immer mit Angst vor dem Tod verbunden und also auch mit Angst vor der Todesnähe und der Möglichkeit, den Tod als etwas unmittelbar und tatsächlich Bevorstehendes kennenzulernen. Der leibhaftige Tod aber, wenn er feststeht und sich nähert, ist gar nicht schrecklich! Ich hatte das angenehme Gefühl, das man im Kino hat, wenn ein sehr langer Vorspann zu Ende geht. Man sinkt tiefer in den Sessel, mit der wohligen Gewissheit: jetzt geht es los. So lag ich auf dem Waldboden. Und mein Angreifer hob die Axt. Er hatte mit der letzten Konsequenz zu kämpfen. Die Axt bildete mit seinem gestreckten Körper eine senkrechte Linie, die starr blieb. Er atmete ein, tief, immer tiefer, schloss die Augen, schien loshauen zu wollen und da - krachte es. Ein Schuss. Mein Feind fiel in sich zusammen, als hätte man ihm alle Sehnen auf einmal durchgeschnitten, und ich musste mich auf die Seite rollen, um nicht noch von seinem schieren Gewicht erschlagen zu werden.
IX.
Ich war schon auf der Reise ins Jenseits gewesen, hatte schon ein Leichtwerden des Körpers und ein beginnendes Hinüberschweben, ein Verblassen der Wirklichkeit um mich herum gespürt, als die Schärfe der Konturen, die Kraft der Farben, die eindringliche Bestimmtheit der Gegenstände mit einem Schlag wiederhergestellt war. Schade, dass ich mich nicht einfach aus der Geschichte als einer, der starb, verabschieden durfte. Ich fühlte deutlich, dass mir da einiges erspart geblieben wäre. Und wieder die banale Schwere meines Körpers, als ich mich aufrappelte! Und diese unnötigen Einzelheiten: An meinen Kleidungsstücken hingen überall Föhrennadeln, kleine Äste und Gräser. Mühsam mich vom Waldboden trennend, auf dem ich mich schon wie endgültig niedergelegt hatte, verspürte ich kein Interesse daran, zu erfahren, wer mich gerettet hatte. Die Wirklichkeit mit ihren nervenden Akteuren und öd-komplizierten Interferenzen konnte mir gestohlen bleiben. Wenn schon zurück zur Wirklichkeit, dann wenigstens ohne den Zwang, da irgendetwas verstehen zu müssen, dachte ich mir, meinen Mantel abklopfend. Ich werde einfach nach Hause gehen, dachte ich. Ich schaute auf, nichts konnte mich mehr überraschen, und doch: der Anblick, der sich mir darbot, gehorchte einer eindrucksvollen Choreographie. Ich sah Gschnitzer und den En-gel reglos im Wald stehen, wobei der Engel einen rauchenden Revolver in der Hand hielt. Gschnitzer bewegte nahezu unmerklich seine rechte Hand, er gab einen Wink, und schon im nächsten Moment verdoppelte sich der Wald. Ja, hinter fast allen mich umgebenden Baumstämmen traten jene Männer der Einsatzgruppe hervor, die noch am Vortag an der Verhaftung Kollanis mitgewirkt hatten. Waren es wirklich die Männer der Einsatzgruppe vom Vortag oder waren es andere? Ich hätte es nicht sagen können. Und war der Mann mit dem Revolver vor mir tatsächlich der Engel oder ein anderer? Der Mann hatte eine andere Frisur als der Engel. Während Engels fettiges Haar seit je von einem messerscharfen Seitenscheitel in zwei ungleiche Hälften geteilt wurde, schien das Haar dieses Mannes frisch gewaschen und wiegte sich korallenhaft in der
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