Kreuzstein
den männlichen Doktoranden.
»Nur kein Neid!« Allenstein grinste. »Ich bin gespannt, was ihr euch diesmal wieder ausgedacht habt.«
Vorsichtig wickelte er das Geschenkpapier ab. Darunter kam eine Zeitung zum Vorschein, die wiederum etwas verhüllte. Er blickte direkt auf ein Foto von sich, wie er bei der Oktober-Exkursion aus dem Kies gezogen wurde.
»Das ist jetzt aber richtig gemein.«
Unter der Zeitung tauchte ein alter Verbandskasten auf, der mindestens aus den fünfziger Jahren stammte.
»Ich kann mir fast denken, was jetzt kommt.« Vorsichtig öffnete er den schon brüchigen Plastikverschluss und klappte den Deckel hoch. Seine Mannschaft drängte sich um ihn herum.
Zum Vorschein kam ein eigenwillig zusammengestelltes Notfallset. Eine Überlebensfolie, ein Stück Traubenzucker, Riechsalz, eine kleine Sandschaufel, Notfall-Bachblütentropfen, ein zusammengerollter Blasenkatheter, zwei Blätter eines Strauches, von dem Allenstein gleich ahnte, dass es sich um Kokablätter handeln musste, und viele Kleinigkeiten, die für manche Überlebenssituationen tatsächlich wichtig werden könnten.
»Wir hoffen, dass wir Sie noch lange als Lehrkörper bei uns haben«, ergriff einer der Mitarbeiter das Wort und gratulierte noch einmal mit einem festen Händedruck.
Seinen Geburtstag Anfang Dezember hatte Allenstein seit Helgas Unfall nicht mehr zu Hause gefeiert. Sein Lebensmittelpunkt lag mittlerweile im Institut, und so war es das Einfachste, mit seiner Arbeitsgruppe zu feiern und gleichzeitig die Weihnachtsfeier vorzuziehen. Meist spendierte er die Getränke, und das Essen wurde durch »Sondermittel« gesponsert.
Die Arbeitsgruppe inklusive Sekretärin war inzwischen auf neun Personen angewachsen. Als Letzte war Anja hinzugestoßen. Am Anfang beobachtete Allenstein sehr genau die Stimmung, weil er wissen wollte, ob sich irgendwelche Spannungen durch den oder die Neue aufbauten. Bei Anja war er sich nicht ganz sicher. Zwei seiner Doktorandinnen hatten schon ab und zu spitze Bemerkungen gemacht, aber das hatte sich anscheinend wieder gelegt. Die Herren hingegen fuhren alle auf Anja ab, was vielleicht auch Probleme geben konnte. Heute jedoch wollte er nichts von Gruppendynamik oder Spannungen wissen. Es gab genügend Glühwein, und die Stimmung war einigermaßen gut. Für gewöhnlich feierte Katy mit, heute jedoch hatte sie eine Verabredung und wollte ihren Vater erst später abholen kommen.
Nicht Auto fahren zu müssen bedeutete an so einem Tag bei Henno Allenstein, dass er etwas trinken konnte. Die Hörnig passte natürlich mal wieder auf wie ein Schießhund und warf schon die ersten zweideutigen Blicke in die Runde. Aber Allenstein ließ sich nicht die gute Laune verderben und quittierte ihre säuerliche Miene mit einem demonstrativen Zuprosten.
Es ging auf Mitternacht zu, und alle machten inzwischen einen deutlich lockereren Eindruck. Selbst die Hörnig hatte sich entspannt. Sie hatte ein klein wenig mehr vom Glühwein konsumiert als sonst und war länger geblieben als in den Jahren zuvor. Sie wirkte auffallend ausgelassen. Als sie schließlich aufbrechen wollte, wackelte sie leicht verjüngt auf ihren Chef zu und wollte sich von ihm mit einer Umarmung verabschieden. Allenstein stand gerade am Glühweinbottich und schöpfte mit der Kelle den nächsten Becher voll.
Das Forschervolk verstummte schlagartig und richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was sich da zu entwickeln schien.
»Tschüs, Chef, ich bin dann mal weg.«
Allenstein versteifte automatisch seinen Oberkörper und schob reflexartig wie eine Schildkröte seinen Kopf nach vorn. Hörnig setzte mit Schwung an und warf sich ihm an die Brust, aber irgendetwas zwischen den beiden war nicht richtig koordiniert. Der Becher geriet zwischen beziehungsweise hinter die Front, und dann gab es für den Inhalt kein Halten mehr. Die klebrige Flüssigkeit lief auf Frau Hörnigs Rücken über das Hinterteil bis zum Rocksaum. Erst hier bremste die Saugkraft des Wollstoffs den weiteren Lauf. Ein zweiter Schwall landete auf Anjas T-Shirt. Während die Hörnig mit einem Stepptanz zwischen den Doktoranden durch den Raum hüpfte, sprang Anja auf und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, als wolle sie einen Angriff von Killerbienen abwehren. Reflexartig ergriff Allenstein zwei Servietten und rubbelte die sensibelsten Stellen des T-Shirts ab. Wenn ihn die Aufgabe nicht so in Anspruch genommen hätte, hätte er sich vielleicht vom Blick seiner Sekretärin warnen
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