Kreuzstein
auf, und ein Mann in den Fünfzigern mit dichten, fast schulterlangen grauen Haaren schritt zielgerichtet auf die beiden Besucherinnen zu. Gabriele Kronberg fiel auf, dass er das linke Bein leicht nachzog. Sein Blick hatte etwas Stechendes, was durch das leicht herabhängende Lid des linken Auges ein wenig gemildert wurde. Als er vor der Kommissarin stand, wirkte er auf einmal ein wenig unsicher.
»Sie möchten Gerda Krämer sprechen? Schwertfeger, ich bin der leitende Psychologe in der stationären Abteilung.« Kronberg zuckte fast zurück, als sie zur Begrüßung seine Hand schüttelte. Schlaff und kühl, wie ein toter Fisch, lag sie in ihrer Hand.
»Ja, wir haben ein paar Fragen zu ihrem Spaziergebiet.«
»Mein Spaziergebiet? Ich gehe nicht spazieren, Sie meinen sicher mein Spezialgebiet«, erwiderte der Psychologe mit einem herablassenden Lächeln.
Kronberg warf ihrer Kollegin einen Blick zu. Die Gärtner verdrehte unmerklich die Augen.
»Nein, ich meine das Gebiet am Leyberg, in dem Frau Krämer häufig spazieren geht. Sie war dort in der Nähe des Steinbruchs auch einige Male mit ihrer Schwester unterwegs.«
»Oh, Verzeihung, da habe ich Sie falsch verstanden. Nun gut. Das heißt, Sie wollen sie auch zu Cordula befragen?«
»Ja, wir müssen sie zu Cordula befragen.« Gabriele Kronberg schaute kurz zu ihrer Kollegin.
»Da kann ich Ihnen leider keine großen Hoffnungen machen. Sie ist psychisch äußerst labil, und gerade der Tod von Cordula ist ein extrem sensibles Thema. Sie spricht sowieso nicht besonders viel und ist immer noch in einer Traumwelt gefangen. Aber versuchen wir es. Wir gehen in den Besprechungsraum.«
Schwertfeger führte sie mit schnellen Schritten einen Gang entlang. Als er die Tür zum Besprechungszimmer öffnete, wehte der Wind, der durch ein geöffnetes Fenster drang, ihm die Haare aus dem Gesicht. Kronbergs Blick fiel sofort auf Schwertfegers rechtes Ohr. Sie runzelte die Stirn.
»Wenn Sie möchten, werde ich mit der Befragung beginnen«, bot Petra Gärtner an. Schwertfeger hatte das Fenster geschlossen und sie in dem modern eingerichteten Besprechungsraum allein gelassen, um die Patientin zu holen.
»Ob das hier abfärbt?«, überlegte die Kommissarin laut und schüttelte sich. »Ja, es wäre mir lieb, wenn Sie mit ihr reden«, fuhr sie dann fort. »Sie wissen, es geht darum, ob die Schwester irgendwann einmal etwas gesehen und erzählt hat.«
Kurz darauf trat Schwertfeger mit einem jungen, zierlichen Mädchen ein. Der erste Eindruck vermittelte der Kommissarin nichts Auffälliges: helle Jacke und Hose, rotblonde, lange Haare, weiche Gesichtszüge. Nur die Augen verrieten, dass sie nicht ganz bei sich war.
Die Psychologin ging auf die junge Frau zu. »Hallo, ich bin Petra, und das ist meine Kollegin Gabriele Kronberg.«
»Ja?« Die Stimme war so leise, dass man sie kaum verstehen konnte.
»Setz dich doch. Wir haben etwas von deiner Schwester gefunden und es dir mitgebracht.«
Gehorsam setzte Gerda sich an den Tisch. Ihr Blick wanderte von den Gästen zum Fenster und schien sich hinter dem Gitter zu verlieren.
Petra Gärtner nahm einige Glasperlen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Der Blick des Mädchens streifte die Perlen nur kurz. Dann sah sie wieder zum Fenster. Ohne die anderen anzusehen, begann sie zu sprechen.
»Carola sagte, der Berg ist ein Altar. Auf ihm hat sie die ganze Kraft der Erde gespürt.« Gerda ergriff eine rote und eine grüne Glasmurmel und schloss die Finger zur Faust.
»Hat sie gesehen, wo die Kraft herauskam?«
»Sie hatte Angst, dass der Ort zerstört würde.«
»Gerda!« Petra berührte vorsichtig ihre Hand, die die Perlen umklammerte. »Hat Carola erzählt, dass sich der Berg öffnet?«
»Ja.« Das Mädchen machte eine kurze Pause. »Jedes Jahr wieder.«
»Und sie hat ihn geheilt?«
Kronberg rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
»Nein.«
Gerda drehte den Kopf in Petras Richtung.
»Das hat doch ein Mann gemacht.«
Die Kommissarin reckte den Hals. »Jedes Jahr?«, fragte sie.
»Ja, immer wenn der Schnee wegtaute.«
»Dann kam der Mann und hat Erde in den Spalt gestreut?«, fragte Kronberg drängend.
Das Mädchen presste die Lippen zusammen. Sie wandte den Kopf ab und blickte wieder zum Fenster.
Petra Gärtner bedeutete ihrer Kollegin zu schweigen. »War das denn ihr Berg?«
»Ja, er gehörte nur ihr.«
Mit einer blitzschnellen Bewegung öffnete sie die Hand und steckte die Perlen in den Mund.
»Nicht!«, rief
Weitere Kostenlose Bücher