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Kreuzstich Bienenstich Herzstich

Titel: Kreuzstich Bienenstich Herzstich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Kruse
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immer sehr viel mehr dafür interessiert, selbst zu leben, als das Leben dokumentarisch aufzuzeichnen, aber das hatte sich böse gerächt. Von seiner Annemarie besaß er nach all den Ehejahren gerade einmal fünfzehn Fotos, davon allein sieben von der Hochzeit.
    Zum Teufel mit meiner Rührseligkeit! Seifferheld schob sich unter den aufmerksamen Blicken von Onis – die Hoffnung stirbt zuletzt! – den letzten Rest Leberwurstbrot in den Mund. Ich passe nicht in das Beuteschema des Mörders. Zu alt und zu untrainiert. Meine Wenigkeit interessiert ihn nicht. Warum dann dieses ganze Carpe-diem-Gehabe? Ablenkung tat not.
    »Also schön«, sagte er. »Was soll der Mehlsack?«
    Karina, die altmodische Lockenwickler im Haar trug,hatte sich über ihr psychedelisch gemustertes Schlabber-Riesenshirt, das ihr als Nachthemd diente, ein Batiktuch geschlungen, in dem sich – Seifferheld schaute nochmals hin – ein Beutel Mehl befand. Der Beutel war schweinchenrosa gefärbt und Karina hatte mit blauem Textmarker ein Smiley-Gesicht aufgemalt.
    »Das ist mein Baby.«
    Susanne machte hinter der Zeitungswand »Hmpf!« und Irmgard höhnte »Ha!«.
    »Ihr habt richtig gehört, das ist mein Baby«, bekräftigte Karina entschlossen. »Es ist ein Projekt der Fachhochschule: Die Kunst ist unser Kind. Ich habe mich für eine einwöchige Real-Live-Performance entschieden. Gleichzeitig bereite ich mich damit auf meine künftige Mutterschaft vor.«
    »Mit einem Sack Mehl?«
    Karina nickte ernst. »Sicher doch. Das Mehl symbolisiert mein Baby. Ich nehme es überallhin mit. Heute Nacht bin ich um zwei aufgestanden, zum Füttern und Windeln. Es heißt Boris.«
    Seifferheld verkniff sich ein Grinsen. »Boris hat ein Aua, wie ich sehe.«
    Über dem rechten Smiley-Auge des Mehlbeutels klebte ein Pflaster.
    Karina zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn heute Morgen auf das Waschbecken gestellt, und als ich mir die Zehennägel schnitt, bin ich mit der Nagelschere versehentlich …«
    »Tolle Mutter«, spottete Susanne hinter der Zeitungswand.
    »Ich übe eben noch.« Karina klang bockig.
    »Ich finde das sehr löblich. Denn wenn Karina einmal wirft, wird ihr Kleines diesem Mehlsack verblüffend ähnlich sehen. Denkt an meine Worte«, sagte Irmgard und faltete den Lokalteil so präzise zusammen, dass man glauben könnte, er sei gebügelt worden.
    Im Laufe der Jahre hatte Seifferheld ein ziemlich genaues Gespür dafür entwickelt, wann seine Schwester Spaß machte und wann nicht. Aber es gab immer noch Grauzonen, bei denen man besser nicht nachfragte.
    »Dein Baby hat auch einen Brandfleck.« Susanne senkte die Zeitung und zeigte anklagend mit dem Finger auf eine kreisrunde, angekokelte Stelle dort, wo sich das Ohr des Mehlbeutels befunden hätte, wenn es Mehlbeutel mit Ohren gäbe.
    »Hast du wieder auf deinem Zimmer geraucht?«, verlangte Irmgard streng zu wissen.
    »Nicht streiten!« Entschlossen legte Seifferheld die HEM-Beilage zur Seite.
    »Ich rauche nicht! Ich hasche nur hin und wieder.« Karina war kurz davor, ihrer Tante die Zunge herauszustrecken.
    Doch da hörte man aus dem oberen Stockwerk ein schweres Knarzen.
    »Was war das?«, fragte Irmi.
    »Ein Geist?«, fragte Karina.
    Susanne blätterte um. »Wir haben Besuch.«
    »Besuch? Wieso weiß ich davon nichts?« Irmi war empört.
    Susanne zuckte mit den Schultern. »Du hast schon geschlafen, als wir gekommen sind.«
    Jetzt erst fiel Seifferheld auf, dass seine Susanne nichtwie sonst in hundertprozentiger Makellosigkeit am Frühstückstisch saß. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und hing ihr ins Gesicht, was sie sehr weiblich aussehen ließ. Die weiße Seidenbluse schien einen Tick verknittert. Hatte Susanne heute Morgen etwa nicht zum Dampfbügeleisen gegriffen wie sonst immer?
    In der eintretenden Stille hörte man die Toilettenspülung im ersten Stock. Sofort darauf erklangen Schritte im Flur.
    »Aha, ein Mann«, konstatierte Karina. »Hände waschen ist nicht.«
    »Susanne würde doch keinen fremden Mann ins Haus bringen, ohne ihn uns vorher vorzustellen«, erklärte Irmgard. »Nicht wahr, Susanne?«
    »Sehr richtig«, sagte Susanne und leerte ihr Gemüsesaftglas, ohne die anderen anzusehen.
    »Und wer ist das bitte?«, verlangte Irmi zu wissen.
    »Wirst du ja gleich mitkriegen, Tantchen«, meinte Karina, als die knarzenden Treppenstufen das Näherkommen des Hausgastes verrieten.
    Man hörte ein Räuspern vor der Tür. Es klang, als räusperte er sich Mut an. Dann

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