Kreuzstich Bienenstich Herzstich
Dass Klaus nicht kapierte, wie sehr Seifferheld um ihn besorgt war, das war die eine Sache. Aber es ging doch generellum Menschenleben. Da musste man einfach volles Engagement zeigen, oder etwa nicht? Und nicht mitten in einer Lockvogelaktion Tagesausflüge nach Rothenburg oder Weimar machen. Kegelkumpane hin, Tante her.
Und außerdem gab es da auch die Wut auf seine Lebenssituation, auf sich, weil er sich mit den neuen Umständen nicht abfinden konnte, auf …
Ein entsetzlicher Schrei war plötzlich aus Behandlungszimmer 1 zu hören.
Der Cordsamtträger legte den
Readers Digest
aus dem Spätherbst 1977 aus der Hand und strahlte Seifferheld an. »Haben Sie das auch gehört?«
Seifferheld nickte.
»Kommt das hier oft vor?«
Seifferheld schüttelte beruhigend den Kopf. »Dr. Beinholt ist ein extrem einfühlsamer Dentist. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich musste bei ihm noch nie Schmerzen leiden.«
Das stimmte zwar, hätte aber der Einschränkung bedurft, dass Seifferheld erst ein einziges Mal hier gewesen war und das auch nur zur Prophylaxe. Außerdem praktizierte Beinholt erst seit rund einem halben Jahr.
Der Cordsamtträger schien mit dieser Auskunft nicht wirklich zufrieden.
Ein weiterer Schrei drang aus dem Behandlungszimmer.
Die riesige, korpulente Zahnarzthelferin – laut dem Plastikschild auf ihrem wogenden Busen eine gewisse Heide Mergenthaler – kam hinter der Empfangstheke hervorgewuselt, eilte auf die Wartezimmertür zu, lächelte entschuldigend und schloss die Tür.
Der nächste Schrei war trotzdem noch zu hören. Als ob eine Katze in einen Mixer gesteckt würde.
Seifferheld schlug die Beine übereinander und grinste nervös.
Der Cordsamtträger dagegen grinste breit. »Klingt aufregend!«, sagte er und freute sich sichtlich. Er rutschte auf der Plastikwanne des schilfgrünen Wartezimmerstuhles nach vorn, als ob er es kaum noch erwarten könne, dass sein Name aufgerufen würde.
Seifferheld starrte auf den PVC-Boden in Holzoptik.
Teilte er sich den Raum mit einem perversen Masochisten, der für seinen Kick einen unschuldigen Zahnarzt mit seinem Bohrer brauchte?
Abrupt wurde die Wartezimmertür aufgerissen.
Aus dem Polizeibericht
DER WEISSE WELS VON HALL
Am Sonntagnachmittag erlitt eine 83-Jährige bei einem Spaziergang am Starkholzbacher See einen Schock. Ihr Dackel, der sich im Zuge des Apportierens eines Stöckchens in den See begeben hatte, wurde von einem Wels attackiert und in die Tiefe gezogen. Der Hund blieb verschwunden und konnte auch von den herbeigerufenen Tauchern der DLRG nicht lokalisiert werden. Es muss davon ausgegangen werden, dass das Tier ertrunken ist. Das Polizeirevier Schwäbisch Hall sucht Zeugen: (0791) 999-71694.
Seifferheld schreckte zusammen.
»Herr Gaidas?«, rief Fräulein Mergenthaler.
»Ja, ja, ja – ich bin bereit!« Der Cordsamtträger sprang auf und der
Readers Digest
fiel zu Boden. Der Mann lief fröhlich auf Behandlungszimmer 2 zu.
Seifferheld und Fräulein Mergenthaler tauschten einen vielsagenden Blick aus.
Sie ließ die Tür offen. Gleich darauf sah Seifferheld Klaus aus Behandlungszimmer 1 kommen. Klaus entdeckte ihn ebenfalls und trat auf ihn zu. »Siggi, alter Knabe, du auch hier?«
»Klaus, mein Gott, waren das eben deine Schreie?«
Seifferheld vergaß, wie wütend er eigentlich auf Klaus war. Wer beim Zahnarzt derart gelitten hatte, dem musste man einfach verzeihen.
»Ja!«, seufzte Klaus. Er wirkte völlig fertig. »Drei Pudel!«
Seifferheld guckte verständnislos.
»Fehlwürfe. Beim Mini-Kegeln.« Klaus hob einen handlichen Koffer hoch, auf dem
Kegeln für unterwegs und zu Hause
stand. »Ich komme öfter mal in der Pause zwischen zwei Patienten zu Bodo und wir spielen eine Runde. Er ist auch bei dem Verein Alle Neune. Heute habe ich echt mies gekegelt. Alles vergeigt. Er hat mich in Grund und Boden gekegelt. Sag ehrlich, wie viel schlimmer kann es noch kommen?« Klaus schaute deprimiert. »Und du? Was machst du hier?«
In diesem Augenblick hörte man aus Behandlungszimmer 2 einen unmenschlichen Schrei. Den Schrei einer gefolterten Seele. Qualvoll. Gepeinigt. Und doch irgendwie ekstatisch.
Seifferheld sah Klaus an, Klaus sah Seifferheld an.
»Ich? Ich habe hier nur Zeitung gelesen. Jetzt ist mir nach einer Tasse Kaffee. Kommst du mit, Klaus? Ich lade dich ein.«
Tragödie als Scherzo in des-Moll
Wuchtig wie ein Ozeanriese erhob sich der Neubau über die Stadt. Seit 1527 ragte das gewaltige Gebäude in die Höhe und zeugte, da es
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