Kreuzstich Bienenstich Herzstich
seinerzeit als Vorratsscheuer genutzt wurde, von dem gewaltigen Reichtum der einstigen freien Reichsstadt. Schon 1604 führten im großen Saal englische Schauspieler
Romeo und Julia
darin auf, was wiederum von der Internationalität Schwäbisch Halls von alters her zeugte. Getreide lagerte mittlerweile nicht mehr im Neubau, aber im Neubausaal fanden immer noch Thea teraufführungen statt. Und Konzerte. Beispielsweise die Kammermusikabende der Konzertgemeinde. Seifferheld war Abonnent.
»Guten Abend«, begrüßte er den Vorsitzenden der Konzertgemeinde. Man kannte sich. Wie ein Wackeldackel in der Hutablage eines alten Ford Taunus bahnte sich Seifferheld durch die Menge, nickte nach links, nickte nach rechts, grüßte ununterbrochen.
»Guten Abend, Walter. Guten Abend, Hannelore.«
»Guten Abend, Dr. Schmitz. Guten Abend, Frau Schmitz.«
»Grüß dich, Wolle. Hallo, Anke.«
Die knapp zweihundert Abonnenten waren überwiegend seit der Stunde null dabei und der Altersdurchschnitt bewegte sich daher im oberen zweistelligen Bereich. Sehrweit oben. Fast schon in Sichtweite des dreistelligen Bereichs. Dass der Neubausaal nicht einmal mehr bei wirklichen Größen der Kammermusik ausverkauft war, lag daran, dass die Abonnenten verstarben. Im Zeitalter der Event-Kultur hatten es Kammermusiker und ihre Veranstalter einfach schwer. Eigentlich war nicht ganz einzusehen, warum die wohlhabenden Honoratioren der Stadt die lächerlichen siebzig Euro Jahresbeitrag nicht als Ehrensache betrachteten und im Sinne eines Bürgerengagements investierten – »Man kann wirklich nicht alles unterstützen, wo käme man denn da hin?« –, aber das zeichnete die Reichen und Schönen dieser Welt ja aus, dass sie zwar schön und reich waren, doch am liebsten immer dort auftauchten, wo sie etwas umsonst bekamen. Bei den Premieren der Freilichtspiele waren die Freikarten für alle, die sich für wichtig hielten, stets sofort weg, und bei den kostenlosen Vernissagen von Würth drängelten sich gern tausend Menschen in sündhaft teuren Roben und maßgeschneiderten Anzügen am üppigen Gratis-Buffet. Im Neubausaal hatte man dagegen reichlich Beinfreiheit.
Die Seifferhelds hielten der Konzertgemeinde von Anfang an die Treue. Und immer zu viert. Annemaries Platz hatte mittlerweile Karina eingenommen, die zwar mit Kammermusik nichts anfangen konnte, sich aber über die Outfits der Musikerinnen köstlich amüsierte. »Ich werf mich weg«, pflegte sie zu sagen und fertigte Skizzen für ihre Kommilitonen an. »Das hat die Cellistin doch aus dem Schlafzimmervorhang ihrer Großeltern gehäkelt. Wahnsinn!« Immerhin pflegte sie es leise zu sagen, und wenn die gescholtenen Cellistinnen Karinas Blicke auffingen, cellierten sie gleich doppelt so eifrig, weil sie dieleuchtend aufgerissenen Augen für Bewunderung hielten. Was es irgendwie auch war. Bewunderung angesichts des Grauens.
Irmgard hatte sich wie immer im Winterhalbjahr in ihr grünes Brokatkleid gezwängt und sich ihre Nerzstola in einem neckischen Winkel um die Schultern drapiert. Auch ein grausamer Anblick, aber die Haller hatten sich daran gewöhnt.
Susanne trug ein graues Etuikleid, unterhielt sich mit einem Managerkollegen und tat wie immer so, als gehöre sie nicht zu dem nach Mottenkugeln riechenden Brokatnerz und dem Invaliden im Konfirmationsanzug.
Seifferheld stellte sich an der kleinen Bar an. Vor ihm bestellte Frau Schöffler vom
Haller Tagblatt,
die über das Konzert schreiben würde, gerade eine Kräuter-Bionade. MaC hatte leider einen anderen Auftrag: Sie musste von dem zeitgleich stattfindenden Klavierkonzert im Goethe-Institut berichten. Noch so eine typische Haller Provinzposse: Man war hier erstaunlich oft nicht in der Lage, Termine so abzustimmen, dass nicht ausgerechnet zwei Klavierkonzerte am selben Abend stattfanden. Wenn das in Berlin vorkam, war das eine Sache, aber an einem derart überschaubaren Ort?
Seifferheld bestellte drei Sekt-Orange für seinen Harem und ein Bier für sich. In der Pause war das Gedrängel vor der Bar zu groß und der Platz nicht ausreichend genug, daher tranken die Seifferhelds immer vor dem Konzert.
Wenn es hinterher ein gutes Konzert wurde, beflügelte der Alkohol; sollte es wider Erwarten einmal nicht so gut sein – Seifferheld selbst war kein Freund moderner Musik–, dann tröstete der Restalkohol im Blut darüber hinweg.
»Siggi!«
Klaus schlug Seifferheld mit wuchtiger Pranke auf den Rücken. Der Sekt-Orange schwappte aufs
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