Kreuzzug
Gletscherbahn brachte im Acht-Minuten-Takt immer wieder neunzig weitere Personen auf den Gipfel.
Markus Denninger schickte zwei seiner Männer zu der deutschen Gipfelstation, um rechtzeitig vor einer Überfüllung zu warnen und dafür zu sorgen, dass der Platz dort optimal genutzt wurde. Er gab Anweisung, die Menschen auch in die großen Restaurantflächen und die beiden kleinen Museen zu lassen, von denen es je eines auf der deutschen und auf der österreichischen Seite gab. Dann drückte er sich an der Schlange vorbei in die österreichische Station. Er wollte sehen, wo sich der Flaschenhals befand, warum es dort nicht weiterging.
Als er sich an der Menschenmenge vorbei- und durch sie durchgekämpft hatte, traute er seinen Augen nicht. Die Gondel stand abfahrbereit da, doch durch die geöffnete Schiebetür konnte er in der Kabine nur vier Menschen sehen, von denen einer am Boden lag, während die drei anderen neben ihm knieten. Die Wartenden reagierten auf seine Ankunft mit der Aufforderung, er solle die Situation dort vorn doch bitte lösen.
»Was ist bei euch los, warum fahrt ihr nicht?«, fragte er die beiden Bahnschaffner hinter den Drehkreuzen, die bereits zum Ziel der Beschimpfungen der Wartenden geworden waren.
»Herzinfarkt. Der Mann ist in der Gondel zusammengebrochen, gerade als sie abfahren wollte. Der Mann im blauen Skianzug ist Arzt. Er hat alle aussteigen lassen und den Defibrillator eingesetzt. Jetzt will er erst den Zustand des Mannes stabilisieren. Vorher darf er nicht bewegt werden, sagt er.«
Denninger schritt entschlossen auf die Gondel zu und erklärte dem Mann im blauen Skianzug: »Es tut mir sehr leid, aber Sie müssen die Behandlung draußen fortsetzen. Wir müssen die Leute nach unten bringen.«
Der Mann sah nur kurz von seinem Patienten auf und sagte dann, den Blick wieder auf den alten Mann gerichtet und in einem krächzenden Tiroler Akzent: »Die sind alle gesund, aber der hier stirbt uns gleich. Auf keinen Fall werden wir ihn bewegen.«
»Machen Sie die Gondel frei, das ist ein Befehl!«, zischte Denninger.
»Von einem deutschen Soldaten auf österreichischem Boden. Interessant. Ich bin Arzt und für das Leben dieses Mannes verantwortlich. Und Befehle nehme ich als Zivilist sowieso keine an. Und von einem Deutschen schon gar nicht.«
»Dann muss ich Sie und Ihren Patienten mit Gewalt aus dieser Gondel schaffen lassen. Sie verfügen nicht über alle Informationen, die ich habe. Die Leute müssen hier runter. Und zwar schnell!«
»Wieso nehmt’s nicht euer altersschwaches Bahndl? Da passen doch immerhin vierzig Leute rein!«
Der Mann wollte anfangen zu diskutieren, aber Denninger machte dem ein Ende, indem er den Männern von der Seilbahn befahl: »Los, Türen zu und runter mit dem Mann!«
Der Arzt im blauen Skianzug stand auf. »Sind Sie narrisch? Sie wollen jemanden mit einem akuten Herzinfarkt innerhalb von acht Minuten zweitausend Höhenmeter nach unten bringen? Da können Sie ihm gleich eine Kugel in den Kopf jagen.«
»Dann schaffen wir ihn jetzt sofort hier oben aus der Gondel. Ob hier oder unten, er muss raus. Jetzt.« Denninger sah dem Mann derart entschlossen in die Augen, dass der schließlich den Blick abwandte.
Er sah ein, dass er verloren hatte, und wies seine zwei Helfer und Denninger an, wie der Lädierte seitlich hochzunehmen und zu tragen war. Sie hoben ihn mit einem Hauruck gleichzeitig an und legten ihn auf eine Decke, die einer der beiden Zugspitzbahner draußen auf dem Bahnsteig ausgebreitet hatte.
»Danke. Sobald er transportfähig ist, besorge ich einen Hubschrauber für ihn«, sagte Denninger.
»Danke, so was haben wir selber«, tönte der Mann im blauen Skianzug.
Denninger ging darauf nicht mehr ein. Er begab sich unter dem dankbaren Gemurmel der Wartenden zurück zu seinem Posten auf der Aussichtsterrasse. Mit dieser Aktion war der Weg zum Abtransport der Wintersportler vom Zugspitzgipfel fürs Erste wieder frei. Zügig füllte sich die Gondel. »Frauen und Kinder zuerst!«, rief Denninger den österreichischen Bahnern zu. Er hatte einen guten Job gemacht, wie er fand.
Vier Minuten später sollte dieser Job einhundertundein Menschenleben kosten.
Kapitel neununddreißig
Schneefernerhaus , 16 Uhr 06
G leich nach dem Ereignis mit dem Herzinfarktpatienten in der österreichischen Seilbahn hatte Denninger den Befehl erhalten, sich unverzüglich ins Schneefernerhaus zu begeben. Er kämpfte sich durch die Menschenmenge von der österreichischen
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