Kreuzzug
Sicherheitskabinett in einen Krisenstab berufen. Stellen Sie sich auf eine lange Nacht ein.«
Fast ausschließlich Männer saßen im großen Konferenzraum des Kanzleramts auf der vierten, der »Geheim«-Etage um den ovalen Tisch. Sie nickten der Kanzlerin zu. Seit dem späten Nachmittag weilten der Staatssekretär des Innenministeriums, der Verkehrsminister, der Wehrbeauftragte des Bundestages, der Generalinspekteur der Bundeswehr, ranghohe Beamte des BKA und des BND , aber auch die Spitzen der Fraktionen des Deutschen Bundestages im Kanzleramt. Sie alle hatten ihre Informationen aus den offiziellen und inoffiziellen Quellen seit Bekanntwerden des Attentats ständig aktualisiert. Wobei die inoffiziellen Quellen in den Ministerien, der Verwaltung, den Presseagenturen und den Medien nicht immer zuverlässig waren; viele der vor Ort bekannten Tatsachen hatten sich auf ihrem Weg in die Hauptstadt in wilde Gerüchte verwandelt.
»Ist es wahr, dass die Menschen da oben alle heute Nacht erfrieren müssen?«, platzte die Fraktionsvorsitzende der Grünen heraus.
Die Kanzlerin erteilte mit einer Handbewegung dem Generalinspekteur der Bundeswehr das Wort, der diese Frage verneinte. »Für die Menschen auf dem Gipfel besteht derzeit keine unmittelbare Gefahr. Sie sind alle in den wenn auch beengten Unterkünften sicher untergebracht. Nur um die Leute im Zug machen wir uns größere Sorgen. Bei der Tragödie, die sich heute schon auf der österreichischen Seite des Berges zugetragen hat und bei der über einhundert Tote zu beklagen sind, ist auch für die Insassen des Zuges im Tunnel vom Schlimmsten auszugehen. Wir haben es mit einem Feind zu tun, der offenbar vor nichts zurückschreckt.« Der ranghöchste General der Republik machte nicht den Eindruck, als hätten er oder der Führungsstab der Streitkräfte bereits einen Plan, wie diese Geiselnahme beendet werden könnte.
»Ist der V-Fall ausgerufen?«, wollte der Mann von der Opposition wissen.
Die Frage ging die Kanzlerin direkt an. »Wir bereiten die Ausrufung des Verteidigungsfalles im Moment rechtlich vor. Ich möchte darüber aber zunächst mit dem amerikanischen Präsidenten sprechen, denn der Verteidigungsfall ist ja eventuell auch der Bündnisfall. Auch mit dem russischen Präsidenten muss ich mich abstimmen. Zudem muss ich dringend den österreichischen Bundeskanzler sprechen, auch wenn der leider im Urlaub in Australien weilt. Denn während wir auf deutscher Seite die Geiselnahme eines Zuges und die Blockade eines Berges vorweisen können, wurde ein weitaus verheerenderer Anschlag auf österreichischem Boden ausgeführt, wenn auch die Verantwortlichen dafür wahrscheinlich auf deutscher Seite sitzen. Österreich ist ein neutrales Land und kann machen, was es will. Völkerrechtlich wie auch einsatztaktisch ist das alles nicht einfach. Daher behandeln wir auf der deutschen Seite die Sache derzeit noch als Katastrophenfall mit erweiterten Befugnissen nach Anforderungslage für die Polizeibehörden und den Bundesgrenzschutz. Die Bundeswehr unterstützt dabei nach Artikel 87 a Grundgesetz.«
Der Staatssekretär des Innern ergriff das Wort, nachdem die Kanzlerin schwieg und zunächst keine weitere Frage aus der Runde kam.
»Wir müssen vor allem erst einmal wissen, mit wem wir es zu tun haben. Und was diese Leute wollen. Vielleicht sind das ja gar keine ausländischen Angreifer, sondern inländische Terroristen. Es liegt bis jetzt, knapp acht Stunden nach der Festsetzung des Zuges, keinerlei Ultimatum oder Forderung vor, obwohl die Geiselnehmer offensichtlich zur Kommunikation mit der Außenwelt in der Lage sind.«
»Ja, offensichtlich sind sie das, da haben Sie ausnahmsweise einmal recht.« Der Oppositionsführer sah seine Stunde gekommen. »Da überwachen Sie die ganze Republik mit Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung und Rasterfahndung und was weiß ich für Big-Brother-Methoden und kriegen nicht nur nicht mit, dass Terroristen offenbar von langer Hand eine solch groß angelegte Geiselnahme planen, sondern Sie können nicht einmal deren Kommunikation unterbinden. Über das Internet! Ich bitte Sie!«
»Irgendwelche Turbanträger funken aus dem Berg heraus in die ganze Welt und machen uns lächerlich«, trat der Fraktionsführer der Liberalen nach. »Und der Innenminister macht Urlaub!«
»Ich weiß, das wäre eigentlich der Job Ihres Parteifreundes, unseres geschätzten Herrn Außenministers«, ätzte der Oppositionsführer. »Wo ist der
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