Kreuzzug
weitergeschoben wurden. Vielleicht war den Menschen auch intuitiv klargeworden, dass man nicht zu schubsen brauchte, weil es vorne nicht weitergehen konnte, dass dort der Berg schlicht und ergreifend zu Ende war. Nach hinten ging es in eine Eishölle, in die der Schneesturm mit weit über einhundert Stundenkilometern Windgeschwindigkeit das Platt mittlerweile verwandelt hatte. Jede Bewegung war vollkommen zwecklos.
In einem Sportstadion, wo instinktiv ein
Draußen
hinter jeder Tür, hinter jeder Treppe gefühlt wurde, wäre schon längst eine Massenpanik ausgebrochen. Ein denkbares
Draußen
gab es für die Festsitzenden auf der Zugspitze jedoch nicht.
Kapitel dreiundfünfzig
Uyuni , Dezember 2011
S ind wir wirklich sicher, dass wir es tun wollen?« Pedro sah alle zwölf reihum direkt an.
»Ja, wir sind sicher.« Wie aus einem Mund kam die Antwort.
»Ist jeder Einzelne von euch sicher, dass er das tun will?«
»Ja, ich bin sicher.« Wieder waren die einzelnen Stimmen in der kleinen Hütte nicht voneinander zu unterscheiden; Mi Pueblo sprach wie ein Mann.
»Wir werden es tun.« Pedro führte ihr selbst entworfenes Glaubensbekenntnis fort.
»Ich werde es tun!«, schallte es zurück.
»Wir tun es für uns. Wir tun es für unsere Kinder. Wir tun es für unsere Eltern. Wir tun es für unsere Ahnen. Wir tun es für das Volk der Aymara! «
»Ich tue es für mich. Ich tue es für meine Kinder. Ich tue es für meine Ahnen. Ich tue es für das Volk der Aymara!«, antwortete die Gruppe.
»Wir lassen uns nicht aufhalten. Durch nichts und niemanden.«
»Ich lasse mich nicht aufhalten. Durch nichts und niemanden.«
»Unser Leben zählt nichts. Wir geben es hin für die gerechte Sache unseres Volkes.«
»Mein Leben zählt nichts. Ich gebe es hin für die gerechte Sache unseres Volkes.«
»Wir opfern unsere Unschuld, um unserem Volk ein Leben in Freiheit zu ermöglichen.«
»Ich opfere meine Unschuld, um meinem Volk ein Leben in Freiheit zu ermöglichen.«
»Wir sind bereit, für den Himmel unseres Volkes selbst in die Hölle zu gehen.«
»Ich bin bereit, für den Himmel meines Volkes selbst in die Hölle zu gehen.«
»Yo soy Mi Pueblo!«
»Yo soy Mi Pueblo!«
Pedro machte eine kurze Pause. Man hörte nichts als das Knistern des Feuers im Kanonenofen der Hütte. Draußen auf dem Salar war es weit unter null Grad.
»Es ist die goldene Geschichte unserer Vorfahren, die wir in eine goldene Zukunft für unsere Nachfahren verwandeln, indem wir Hunderte von Jahren der Unterdrückung beenden. Auch wenn wir nicht mehr sein werden, unser Volk wird sich an uns und unsere Taten auf ewig erinnern, und für Tausende von Jahren wird die Seele unseres Volkes Nahrung erhalten. Auf dass sie wächst und gedeiht und dieser See und dieses Land zu einem Garten Eden werden.«
Die zwölf Mitglieder von Mi Pueblo standen auf, stellten sich im Kreis um Pedro auf und schlossen die Augen. Pedro gab etwas Salz von der Kruste des Sees in den Steinmörser und nahm mit einem Blechlöffel ein Häufchen Asche aus dem Ofen. Ein paar Scheite eines der wenigen Bäume, die es in dieser Gegend gab, hatten sie an diesem Tag für die Zeremonie verbrannt. Bei dem Salzgehalt der Luft und in der Höhe wuchsen nicht viele Pflanzen. Auch die Asche gab Pedro in den Mörser, dann träufelte er aus einem kleinen blauen Fläschchen etwas Weihwasser hinzu; Padre Simeon hatte es ihm für seine angebliche Expedition in die Berge gegeben. Pedro verrieb das Ganze mit dem Schlegel zu einem hellgrauen Brei, tauchte seinen Zeigefinger in die Paste und malte jedem seiner Anhänger ein Kreuz auf die Stirn. Es sollte sie schützen und ihnen die Entschlossenheit verleihen, mit der Jesus Christus für die Menschheit gestorben war.
Dann nahm Pedro den getrockneten Lamafötus, den er in La Paz in der als »Hexengasse« bekannten Calle Linares hinter der Kirche San Francisco an einem der Stände erworben hatte. Die Uru-Frau mit dem melonenartigen Hut hatte behauptet, der Fötus habe besonders große Zauberkraft in sich, denn er stamme von einer Alpaka-Kuh, die in einer Vollmondnacht geschlachtet worden sei.
Pedro legte den ledrigen Kadaver in das Loch, das er vor der Zeremonie in das Salz gehackt hatte. Bei neu errichteten Häusern wurden Lamaföten in die Fundamente eingemauert, um den Schutz der großen und in allen Dingen wohnenden Pachamama zu erwirken. Sie sollte nun auch die Bruderschaft von Mi Pueblo beschützen.
Pedro schob das Salz, das er aus dem Loch gehackt
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